Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter


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und spiegelverglasten Hochhäusern.

      „Ach ja, was ich noch fragen wollte“, grätschte sich Michael in seine verheißungsvollen Gedanken, „an der Limousine ist eine Beule. Hast du eine Ahnung, wieso?“

      „Eine Frau ist mit ihrer Autotür dagegen gekracht.“ Eigentlich war diese Annie eine aparte Erscheinung. Langes dunkelblondes Haar, grüne Augen und vorwitzige Sommersprossen prägten ihr Gesicht mit der hübschen Sommerbräune. Trotz ihrer einfachen Jeans und dem T-Shirt mit V-Ausschnitt wirkte sie äußerst anziehend. Zumindest bis sie den Mund aufmachte. Diese Frau war ziemlich schlagfertig und kratzbürstig. Obendrein schien sie sein Reichtum nicht zu beeindrucken. Das war ihm bei Frauen noch nie passiert. „Den Schaden nehme ich auf meine Kappe.“

      Michael stutzte. „Ich dachte, sie ist schuld.“

      „Ist sie auch.“

      Ein Schatten der Erkenntnis huschte über das Gesicht seines Freundes. „Ich verstehe. Sie erinnert dich an Carol.“

      Jacks Laune sank sofort auf den Gefrierpunkt. „Kein Stück tut sie das“, dementierte er lauter als beabsichtigt, wodurch es im Raum wie aufs Stichwort still wurde. In der nächsten Sekunde hatten die Jugendlichen wieder ihr Interesse verloren und unterhielten sich lautstark wie zuvor. „Weder äußerlich noch charakterlich“, fügte Jack hinzu. „Deswegen lass die blöden Anspielungen. Außerdem haben wir Wichtigeres zu tun und ich für meinen Teil stelle mir lieber weiterhin vor, wie St. Agnes in einigen Jahren aussehen wird.“ Er hatte keine Lust, über Carol zu sprechen. Weil er niemandem zeigen wollte, wie es tatsächlich in ihm aussah. Nicht einmal Michael. „Ich sollte das Angebot des Hotelchefs annehmen, obwohl ich ihn runterhandeln werde, denn wie sagt Vater so schön: Mit Geld lässt sich zwar alles lösen, aber wenn es ums Bezahlen geht, muss man um jeden Dollar kämpfen.“

      Konsterniert blickte Michael ihn an. „Es gab Zeiten, da hast du anders gesprochen.“

      „Die sind vorbei“, sagte Jack bestimmt. „Ich habe mir den Platz in Vaters Firma hart erkämpft.“

      „Worin ich dir durchaus zustimme. Trotzdem wirkst du allmählich wie sein Klon.“

      Michael nahm sich selten ein Blatt vor den Mund, was Jack bisher nie gestört hatte. Diesmal war es anders. „Ich hatte meine rebellische Zeit und was hat sie mir gebracht? Meine Frau ist tot und ich kann von Glück sagen, dass mich Vater wieder eingestellt hat.“

      „Der alte Jack gefiel mir besser, der sich gegen seinen Vater auflehnte und dessen Härte verurteilte. Insbesondere Carol trotz dessen Widerstand geheiratet hat. Du hast dich damals mit dem Handel von Antiquitäten selbstständig gemacht und bist völlig in deiner neuen Aufgabe aufgegangen. Nebenbei hast du …“

      „Ich kenne mein Leben“, unterbrach Jack ihn zornig.

      „Das mag sein“, blieb Michael hartnäckig. „Aber wo sind deine Ziele geblieben? Deine Werte? Natürlich war es hilfreich, dass du durch den Job aus dem Tief herausgekommen bist, dennoch wage ich zu behaupten, dass du es auch ohne die Hilfe deines Vaters geschafft hättest.“ Michael schüttelte den Kopf. „Sieh dich an, Jack. Seit über zehn Jahren musst du dich beweisen. Hart sein wie dein Vater. Erfolgreich. Ein Leben für die Firma. Privates bleibt völlig auf der Strecke.“ So hatte er Michael noch nie erlebt, der sich regelrecht Luft verschaffte, als würde er das alles schon eine Weile mit sich herumtragen.

      „Was mich immerhin zum Teilhaber gemacht hat.“

      „Dein Vater besitzt weiterhin die Mehrheit.“

      „Reine Formsache“, regte sich Jack auf. „Im Übrigen würde ich dir raten, das Thema zu beenden und erinnere dich gerne daran, dass du ebenfalls für meinen Vater arbeitest.“

      „Stimmt. Als dein Assistent und Berater. Allerdings bin ich in erster Linie dein Freund und kenne dich besser als du denkst. Auf Dauer wird dich das nicht glücklich machen. Weil nichts davon echt ist. Du überdeckst deine Trauer um Carol mit Geschäftigkeit. Alles ist geplant. Sogar deine Duschzeiten. Vermutlich, um den Erinnerungen keinen Raum zu lassen. Dabei wäre es so wichtig, die Sache mit Carol zu verarbeiten. Für Leni nicht minder. Oder hast du je mit ihr über ihre Mutter gesprochen?“

      „Allmählich gehst du zu weit, Michael“, zischte Jack. „Was ich mit meiner Tochter bespreche, ist allein meine Sache. Außerdem ist sie nicht umsonst mitgekommen. Ich will Zeit mit ihr verbringen.“

      „Um Versäumtes nachzuholen?“, traf er Jacks wundesten Punkt. „Du hast mit Leni dasselbe gemacht wie dein Vater mit dir. Bloß mit dem Unterschied, dass auf sie keine Mutter zuhause gewartet hat, die sich die Augen nach ihrem Kind ausheulte.“

      „Mutter ist gut damit zurechtgekommen.“

      „Dir zuliebe. Allerdings wart ihr euch nie so vertraut wie zu deiner Zeit mit Carol. Deine Mom hat Partei für dich ergriffen und nahm deine Frau mit offenen Armen auf. Seitdem du wieder für deinen Dad arbeitest, bist du derselbe Chauvinist geworden und deckst jede seiner Affären. Was du deiner Mom damit antust, scheint dich nicht zu interessieren. Oft genug hat sie sich bei meiner Mutter ausgeheult. Deshalb und aus anderen Gründen solltest du dein Leben gründlich überdenken, denn über kurz oder lang wird dich dein Vater in seine dunklen Machenschaften ziehen. Etwas, das dich damals aus der Firma trieb.“ Michaels Blick war zwingend, dennoch fuhr er bedachtsamer fort: „Du bist mir wichtig, Jack. Auch Leni und deine Mom, die ich von Kindesbeinen an kenne. Deshalb vergiss nie, dass du nicht wie dein Vater bist, egal wie sehr du ihm nacheifern willst. Einer wie er hat kein Gewissen. Du aber schon und irgendwann kommt man jedem auf die Schliche. Selbst einem Mann wie deinem Dad.“ Michael warf einen schnellen Blick auf die goldene Armbanduhr. „Du solltest langsam los.“

      „Der erste vernünftige Satz in den letzten zehn Minuten.“ Abrupt sprang Jack hoch und nahm die Mappe an sich. Die Kanten drückten in die Innenflächen seiner Hände. „Ich melde mich, sobald die Sache unter Dach und Fach ist. Leni nehme ich übrigens mit.“ Beinahe fluchtartig verließ Jack den Saal und als er seine Tochter in der hellerleuchteten Lobby erblickte, blieb er neben der verstaubten Plastikpalme stehen, die den halben Lift verdeckte. Leni starrte hochkonzentriert auf das Handy und nagte an ihrer Unterlippe. Die neongelbe Latzhose und das neonpinke Shirt gehörten seit kurzem zu ihren Lieblingsoutfits. Unlängst hatte sie die Sachen in einem Karton am Dachboden gefunden. Eigentlich hatte Jack sie entsorgen wollen, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Jetzt trug seine Tochter Carols Kleider auf, die ihr wie angegossen saßen.

      Leni schaute plötzlich hoch, als hätte sie seinen Blick gespürt. Oder seine Gedanken gelesen. Den Schmerz gefühlt. Die Qual. Jack riss sich zusammen und ging zu ihr. Dabei lächelte er. „Ich fahre nach St. Agnes. Möchtest du mitkommen?“

      „Wenn es sein muss“, kam die kaugummikauende Antwort. Große Lust schien sie ja nicht zu haben und wie die Jugendlichen im Saal lag auch sie eher auf dem Stuhl, als dass sie saß. Wieder einmal stellte Jack fest, wie schnell sie erwachsen wurde. „Alles ist besser als diese Langweile.“

      „Schön“, meinte er. „Ich muss vorher etwas klären. Warte hier auf mich.“ Leni nickte und widmete sich wieder ihrem Zeitvertreib. Er indessen suchte Harry im Büro auf, und nachdem er ihn auf hundert Pfund heruntergehandelt hatte, wurden ihm feierlich die Schlüssel überreicht.

      „Sie sind ein harter Geschäftspartner“, lobte Harry ihn, statt zu bedauern, den Kürzeren gezogen zu haben. Verwunderlich angesichts seiner augenscheinlichen Geldnot, die Jack ihm inzwischen unbenommen glaubte. Als Geschäftsmann übte er deshalb etwas Nachsicht mit ihm. Manchmal war das Einsparen von Personal eben nötig und wer wusste das besser als er selbst? Immerhin warf er ständig Leute raus …

      ♥

      Annie bummelte durch den Ort. Begleitet vom Seewind, der durch die Straßen und Gassen fegte. Dann wiederum schien es, als würde er die Luft anhalten, weil sie keinen einzigen Hauch spürte. Wenigstens waren ihre Tränen getrocknet, obwohl Annie ahnte, dass sie beim geringsten Anlass wieder weinen würde.

      Eigentlich hatte sie nach der Kirche auf direktem Weg nach Hause fahren wollen, aber der Anblick des Vaters würde sie


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