Gefangen auf der Insel vor dem Wind. Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind - Maxi Hill


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lächelnd, fast entschuldigend: »…ach was. Dann wird eine Autorin doch vermutlich etwas zum Lesen dabei haben. «

      Idas Frage nach ihrem Mann, die ihr auf den Lippen brennt, beantwortet die Frau nicht. Ob das gewollt ist, kann sie nicht ergründen, weil just in diesem Moment das Funktelefon anschlägt.

      Die Antworten, die die Frau gibt, sind ebenso einsilbig, wie sie auch zu ihnen beiden ist. Das beruhigt Ida in gewisser Weise. Und ebenso sieht es Ben.

      Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück verlässt jene Frau, die Ida und Ben Winter nur als M. oder als H. Peterson kennen, mit ziemlich viel Gepäck aus Kisten und Kartons auf dem Bollerwagen den Hof in Richtung des Anlegers, von dem ihr schon der Postbote vom Vortag geschäftig entgegen gelaufen kommt.

      AUF DER INSEL VOR DEM WIND

      Sie sind noch keinen vollen Tag hier, schon gehört alles, was Ida bisher gedacht und erlebt hat, einem anderen Leben an. In der endlosen Weite und der steten Brise, die frisch, aber sauber und gesund ist, scheint es Ida, als schmelzen auch die Tage dahin, die sie einst als normal betrachtet hat, die ihr jetzt merkwürdig enteilen, als haste das Leben vor ihr davon. Sie schaut in die Runde und über die Endlosigkeit des neuen Seins, das sie schon heute nicht mehr als öde, als trist oder gar tötend ansieht. Sogar Ben gefällt es, auch nach dem Frühstück noch ebenso eins mit ihr zu sein, wie seit Jahren davor. So verschieden ihr inneres Leben auch abläuft, sie wachen noch nach vielen Jahren gemeinsam auf, als würde die Liebe noch so groß, noch so tief sein, dass man spürt, wenn der andere sich regt, wenn sein Atem einen anderen Rhythmus bekommt, wenn man glaubt, im nächsten Moment verlassen zu werden, weil man als schlafend gilt und weil der andere Rücksicht nimmt. Rücksicht ist die neue Liebe, hatte sie einmal gedacht, als sie sich mehr von Ben gewünscht hatte, als dass er nur rücksichtsvoll war.

      Wie die Kinder laufen sie ungewohnt einträchtig Hand in Hand nach Nordwest am windschiefen Gattertor vorbei, das einen Teil der Wiese begrenzt. Die ganze Insel scheint schräg zu sein. Dort, wo das Land zum Meer hin abbricht, ragt es höher hinaus als auf der Gegenseite. Gerade dort hatte Ida am Vortag Blumen zwischen dem kargen Gras erkannt, das überall auf der Insel wächst. Sie liebt Blumen auf ihrem Tisch, aber sie ist klug genug, sie nicht unnötig dem Kleingetier vorzuenthalten, das ohne die Blüten nicht leben kann. Zudem haben Wildblumen in einer Vase keine so lange Überlebenszeit wie Zuchtpflanzen.

      »Schau mal, wie schön die Grasnelke auf diesem kargen Sand blüht«, freut sie sich, aber Ben hat längst ihre Hand losgelassen, steht an der Abbruchkante und schaut angestrengt über das Wasser, das ruhig liegt. Nur winzige Wellen kräuseln sich und werfen das Sonnenlicht zurück, was die Welt um sie herum ganz silbern macht.

      Ida interessiert die Welt zu ihren Füßen viel mehr. Hier an der Kante, die noch höher liegt als das Haus, das die Vorfahren vorausschauend erhöht gebaut haben, ist die einzige Stelle, wo Blumen blühen. Überall auf den Wiesen ist nur das dicke Salzwiesengras zu sehen.

      Schön, denkt Ida. Ebenso schön findet sie den gelben Hornklee, der sich an die Abbruchkante duckt. Weiter hinten blüht ein Strauch mit Strandflieder und rundherum eine Nesselart in kräftigem Pink.

      Sie streift weiter durch das Gras. An ihren bloßen Waden kitzeln die wippenden Spitzen vom Schlangenmoos.

      Auch Ben hat seine Jeans hochgekrempelt. Er geht heute wie sie nur in einfachen Pantinen ohne Strümpfe. Als sie das Haus verlassen haben, hatte er etwas gemurmelt, was sie nicht hinterfragt hat, was sich aber so anhörte wie: Wenn er schon mal die Freiheit habe…

      Hier an der Abbruchkante gibt es eine Stelle aus dichtem Gras, die wie geschaffen ist zum Verweilen. Ida setzt sich auf das weiche Polster, Ben führt seine Hand wieder an die Stirn und schaut hinaus in die Weite, aus der man sie hierher gebracht hat. Dass es ein Trugschluss war, erkennt Ida erst viel später, schließlich liegt das Festland östlich, wo auch die unbekannte Insel mit dem Schiffsanleger liegen muss.

      Während sie so sitzt, den Wind im Gesicht spürt, die Schuhe auszieht und die Zehen in den losen Kies drückt, überdenkt sie ihr Glück, wie sie zu diesem kleinen Paradies gekommen sind: Wie die Jungfer zum Kind. Über diese Plattitüde beginnt sie zu kichern. Jeder andere Schreiberling würde sie für einen solch platten Satz schelten.

      In ihren Gedanken vergisst sie, dass Ben noch immer hinter ihr steht. Vermutlich wäre es ihr sonst nicht entfallen, dass auch er von etwas träumt: Von seinem kleinen Paradies, das er verloren zu haben glaubt und das er hier, genau hier, wo das Leben keine Ablenkung bringt, wieder neu erobern könnte?

      Gerade nimmt Ida sich etwas fest vor: Wenn sie zurück im Haus ist, wird sie sofort ihre seltenen Eindrücke von diesem Stück Land aufschreiben, bevor sie von unbedachten Worten oder ganz Anderem überlagert werden. Genau das passiert ihr oft, und wenn sie für ihr Setting das Besondere braucht, kann sie es nicht mehr so klar und präzise rekonstruieren.

      Kaum zu Ende gedacht, spürt sie Bens Arm um ihre Schultern. Sein Kopf nickt zum offenen Meer: »Wäre das nicht Stoff für einen neuen Roman. Die kleine Insel im Wind? «

      Ida hält den Atem an. Wann denkt Ben je daran, worüber sie schreibt? Was ist mit ihm?

      »Für mich liegt die Insel noch vor dem Wind«, sagt sie in der Gewissheit, Ben würde sofort ein Gegenargument anführen. Sie irrt sich nicht zum ersten Mal.

      Ben sitzt dicht bei ihr und lässt seine Hand von ihrer Schulter tiefer sinken, aber fester streicheln. Ida liebt es, wenn seine Haut auf ihrer Haut liegt, egal wo und warum. Er scheint dasselbe zu wollen und hebt ihren locker über den Gürtel fallenden Pulli an, schiebt seine Hand darunter und streicht zärtlich über ihren nackten Rücken und die Lende. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter wie früher. Über das Meer zieht ein Schwarm Schwäne, sehr tief, gefährlich tief, wie Ida glaubt. Die Luft ist klar, klarer als befürchtet. Irgendwer hatte einmal gesagt, wenn ein sonniger Tag diesig ist, bleib auch der nächste schön. Heute ist er alles andere als diesig. Aber gerade in seiner Klarheit ist er so besonders — für ihr Herz ist er schön, denkt sie, und sie denkt, wie dumm wir doch beide sind. Wir leben aneinander vorbei, jeder für seinen Job. Das kann nicht das Leben sein. Nicht das. Wenn nicht hier, wann dann, können sie sich wiederfinden?

      Ob es ein Leben für sie wäre zwischen Kühen und Koppeln, zwischen Hühnern und Kaninchen…? Mit Trinkwaser aus einem Behälter und mit Brauchwasser aus einem anderen. Am schlimmsten aber ist für sie das Klo, das in einer Jauchegrube endet. Ein ganz furchtbarer Gedanke …

      Ida muss ihn nicht zu Ende denken. Bens Hand wandert um ihre Flanke herum bis zu ihrer rechten Brust. Erst zärtlich, rücksichtsvoll, dann fordernd. Unmerklich schiebt sie den Körper näher zu Ben. Es ist noch immer etwas Einzigartiges, wenn sie Bens Begehren spürt. Es ist wie damals als Kind, als sie ihre Puppe wiedergefunden hatte und vor Freude zu weinen begann und alles um sich herum vergaß, bis sie die Mutter daran erinnerte, was sie zu tun habe. Als erstes käme bei aller Freude immer die Pflicht.

      Noch am letzten Gedanken hängend, stöhnt Ida auf.

      »Mein Gott«, schreit sie beinahe, »wir sollten doch gleich am Morgen die Hühner füttern und herauslassen… Und die Kaninchen…«

      Bens Griff lockert sich, was sie zutiefst bereut, aber nun nicht mehr ändern kann. Verstohlen schaut sie ihm ins Gesicht. Seine gerade noch ebenmäßig entspannte Miene scheint zu versteinern, sein Haar bewegt sich leicht, als schüttelte sein Kopf einen gerade gefassten Gedanken wieder ab.

      Jeder für sich laufen sie zurück zum Haus.

      »Geh schon hinein, ich mach das«, sagt er zu Ida. Mal wieder geht seine Enttäuschung ohne ein weiteres Wort einher, aber mit so deutlichen Gesten, dass es ihr wehtut. Er will sie jetzt, wo sie ihm etwas verdorben hat, für eine Weile nicht sehen, sie hat vermasselt, was für beide gut gewesen wäre. Warum?

      Sie kann es nicht mehr ändern und sie weiß, dass sich genau diese Dinge, wo einer die Erwartung des anderen durchkreuzt, durch ihr Leben ziehen. An dieser Entwicklung ist sie nicht schuldlos. Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. C‘ est la vié.

      Wenn


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