Gefangen auf der Insel vor dem Wind. Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind - Maxi Hill


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für späteres Schreiben.

      Im fensterlosen Flur ist es düster, nur wenig Licht fällt durch die offene Küchentür auf den gefliesten Boden. Durch die geschlossene Haustür dringt schwallartig etwas Wasser in den Flur. Hastig sucht sie nach den Gummistiefeln, findet den anderen vom einzigen Paar hinter einem Vorhang. Sie sind ihr einige Nummern zu groß — bestimmt würden sie auch Ben noch eine oder zwei Nummern zu groß sein.

      Ganz vorsichtig öffnet sie die Tür, schlägt sie hastig wieder zu und rennt rücksichtslos polternd nach oben.

      »Ben!«, schreit sie schon von der Treppe her, »du musst kommen, es ist nur noch Wasser um uns, kein Land mehr.«

      Das stimmt nicht ganz. Zur anderen Seite des Hauses, zur Abbruchkante hin, ist noch viel Land zu sehen, aber vor dem Haus zum Watt hin sieht sie keinen Horizont mehr.

      Ben hebt seinen Kopf, lässt ihn zurückfallen auf das Kissen und sagt, eher mürrisch als erschrocken, »Wir sind auf einer Insel, schon vergessen?«

      »Verdammt!«, schreit sie ihn an. »Ja, auf einer Insel aber nicht auf einem schwimmenden Haus. Herrgott, nun komm endlich! «

      Hastig, fast vorwärtsstolpernd in den viel zu großen Stiefeln, läuft sie die Stufen zurück, stürzt in die Küche und prüft, ob die Fenster dicht sind und ansonsten alles noch in Ordnung oder brauchbar ist. Erst dann verlässt sie das Haus, kämpft mit ganzer Kraft gegen den Sturm an und schleppt sich durch knöchelhohes Wasser bis zum hölzernen Schuppen außerhalb des festgemauerten Komplexes von Haus und Scheunen. Dieser Holzschuppen scheint ihr plötzlich am gefährlichsten zu werden. Am gefährdetsten ist er ohnehin. Ihr stockt der Atem. Die Jauchegrube verströmt einen widerlichen Gestank, vermutlich läuft sie über. Dieser Gedanke erzeugt bei der vom Luxus der Großstadt verwöhnten Frau sofort Übelkeit.

      Der Sturm zaust an ihrem Haar, der Regen peitscht wie Drahtseile gegen ihren Leib und durchnässt schon auf den wenigen Schritten ihre Kleider. Sie kann die schwere Tür, vermutlich der stabilste Teil der ganzen Bude, kaum bändigen, aber drinnen wird es ruhiger sein, denkt sie noch, dann versinkt die Welt um sie herum.

      Als sie zu sich kommt, schmerzt ihr Kopf und ihr Gesicht wird von Wasser umspült. Dicht bei ihr, zwischen dem Kaninchenstall und den Heuballen, liegt ein Balken quer. Diese verrückten Träume, denkt sie wie schlaftrunken. Sie spürt eine Taubheit, die ihr befiehlt, liegen zu bleiben und weiter zu schlafen, sich an Ben zu kuscheln und sich an ihm zu wärmen. Ihr ist kalt. Um sie herum ist alles nass, aber Ben ist gar nicht zu spüren an ihrer Seite. Sie versucht, die Augen zu öffnen. Das verschwommene Bild um sie herum ist ein anderes als gewohnt: Weder das heimische Schlafzimmer, noch die Badewanne. Wo, verdammt, kann sie so nass sein wie in der Badewanne? Sie will nach Ben schauen, da schwappt salziges Wasser in ihren Mund. Salzig! Langsam kommen die Bilder wieder. Sie ist auf diesem Eiland, diesem von Menschen verlassenen Stück Land mitten im Meer. Diese Menschen wussten, warum sie an diesem Tag nicht hier sein sollten. Verdammt.

      »Ben! Zum Teufel hilf mir…! « Nur mühsam dreht sie sich zur Seite, bekommt sofort wieder einen Schwall schmutzigen, salzigen Wassers in den Mund, in dem sich Heu verfangen hat und ganz bestimmt auch Hühnerscheiße. Sie spuckt und krächzt aus Angst, sie müsste daran ersticken oder sich vergiften mit Salmonellen oder scheußlichen Viren. Mit unsäglichem Kraftaufwand gelingt es ihr, die Knie unter den Leib zu schieben, um den Rücken krümmen zu können und vorsichtig den Kopf zu heben. Sie bekommt keine Luft. Vermutlich hatte sie in ihrer Ohnmacht schon Wasser geschluckt, das sich langsam in ihrer Lunge breitmacht, Bläschen für Bläschen. Die Kraft, um zu husten, fehlt ihr. Der leere Magen will den Ekel loswerden. Wenigstens hat sie im Vierfüßlerstand hockend eine gewisse Distanz zwischen ihrem Mund und dem dreckigen Wasser. Vorsichtig befühlt sie ihr Gesicht, ob es eine Wunde hat, ob Blut im Spiel ist. Eine Stelle zwischen Stirn und Schläfe tut höllisch weh und fühlt sich geschwollen an. Einäugig blinzelt sie um sich. Die Kaninchen im untersten Stall werden gleich dasselbe erleben, was sie durchmacht, wenn nicht bald etwas geschieht.

      Irgendwo poltert schon wieder etwas. Reflexartig reißt sie die Arme schützend über ihren Kopf. Gleich darauf hört sie die Stimme von Ben: »Ja was machst du denn für Sachen!« Sie sieht sein Gesicht nicht, aber sie stellt sich vor, wie wütend er ist. Oh, Ben kann wütend werden, wenn sich jemand — nein, wenn sie sich — anders verhält als er es für richtig erachtet.

      Sie spürt seine Arme unter ihren Achseln. Nur verkrampft dreht sie sich so, dass es ihm leichter fällt, ihr hoch zu helfen. Der Schmerz in ihrem Kopf pocht so heftig, dass ihr noch übler davon wird, als ohnehin. Sie möchte sich übergeben.

      »Ich wollte…«, stammelt sie zu ihrer Entschuldigung, aber Ben ist nicht nach einer Diskussion zumute. Allzu optimistisch, er würde sie verstehen, ist sie ohnehin nicht. Nicht einmal nach dieser Nacht, die ihr bruchstückhaft wieder einfällt. Erinnert sie sich richtig, müsste doch gerade diese Nacht alles einfacher machen. Liebesnächte haben das Leben mit Ben eine Zeit lang immer einfacher gemacht.

      »Die Kaninchen und die Hüh…«

      Um sie herum kracht es wieder, und es stürmt so heftig, dass die Bretterwände kaum Schutz bieten. Sogar Ben schaut sich dauernd nach irgendetwas um, was gefährlich werden könnte. Als ihr Körper sich soweit in die Höhe streckt, dass sie beinahe auf den eigenen Füßen steht und sie sich selbst nach allen Seiten umschauen kann, hört sie Bens vorwurfsvolle Worte. »Lass doch das blöde Vieh. Darum kümmern wir uns später. Los…! Erst mal zurück ins Haus, trockene Sachen an … und dann… «

      Auch Bens Stimme ist atemlos wie ihre. Auch sein Atem klingt so erregt, als würden sie sich gerade lieben.

      Erst jetzt bemerkt sie, dass Ben mit nackten Füßen in seinen Plastikpantoffeln steckt. An einer Stelle seitlich vom Haus reicht ihm das Wasser bis zum Knöchel. In ihren Stiefeln blubbert es und von ihren Kleidern fließen Bäche an ihr herunter, dass sie es auf der Haut spüren kann.

      Schritt für Schritt auf wackligen Beinen aber mit Übelkeit im leeren Magen hält sie sich rechts an Ben fest, links tastet sie sich an der Trennwand entlang, die uneben und voller gefährlicher Holzschiefer kein guter Ausgleich zu Bens festem, vielleicht auch wütendem Griff ist. So genau kann sie noch gar nicht denken, was sie Ben aber unbedingt verheimlichen muss.

      »Hätte die … ich meine, die Frau des Hauses … nur einmal ein einziges Wort gesagt! Hätte sie mich auch nur gefragt, was ich mir als schlimmstes Szenario vorstellen würde, ich hätte genau das gesagt: Land unter. Und ich hätte ganz bestimmt gefragt, was zu tun ist. Aber niemand hat uns auf ein solches Dilemma vorbereitet.«

      Niemand? Sie scheint wieder klar denken zu können, hofft sie jedenfalls.

      »Da war doch der Anruf…«, sagt Ben keuchend unter der Last ihres Körpers.

      »Ja, verdammt. Da war der Anruf!«

      Jetzt nicht auch noch wütend werden. Bloß nicht das. Nicht einmal, falls das ein versteckter Vorwurf war.

      Konnte sie alles richtig an Ben weitergeben? Nein. Aber es hat ihn auch nicht angehoben. Nichts, was er nicht selbst erlebt, hebt ihn je wirklich aus seiner stoischen Art. Ihr Vorwurf an ihn ist jetzt ebenso fehl am Platz, aber die Hoffnung, er könnte wenigstens einsehen, dass er hätte auf den Funkspruch aktiver reagieren können, wenigstens am Morgen nach ihrem Hinweis auf das Wasser eher hätte agieren können, diese Hoffnung hat sie nicht.

      »Ja, mein Gott. Was sollten wir mit ungenauen Angaben auch anfangen?«, faucht er, weil er es seit einigen Jahren nicht verträgt, wenn sie ein krummes Haar an ihm sucht.

      Wir?, denkt sie wütend. Wieder einmal wir? Also auf keinen Fall er. Ist die Technik nicht von jeher sein Metier?

      Sie erreichen das Haus. Ben stützt sie beim Gehen, als sei sie ein Greis, was ihm ihr hilfloser Zustand offenbar aufträgt. Im Flur drückt er sie auf die Holzbank und holt die trockenen Sachen, die noch vom Abend in der Küche über der Stuhllehne hingen. Er will ihr beim Entkleiden helfen, aber sie will es nicht.

      »Na, dann mach ich uns erst einmal ein heißes Frühstück, danach sehen wir weiter.« Der Gedanke an heißen Kaffee und duftenden Toast versöhnt


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