Gefangen auf der Insel vor dem Wind. Maxi Hill

Gefangen auf der Insel vor dem Wind - Maxi Hill


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Ähnlich jedenfalls geht es ihr zumeist selbst, und genau das ist der Grund, warum sie beide ihr gemeinsames Problem der schleichenden Entfremdung nicht aufarbeiten, nicht im Guten, aber zum Glück auch nicht im Bösen.

      Zurück ins Haus kommt Ida gerade noch rechtzeitig, um die Stimme eines Mannes zu erfassen, die aus dem Gerät kommt, das im Flur steht, das sie aber nicht beherrschen würde, müsste sie jetzt etwas tun.

      »Hallo«, versteht sie, und auch den Namen »Vincent«, sagt die Stimme in einem Akzent, der sich mehr platt als dänisch anhört. Und dann sagt er, er käme in den nächsten Tagen nicht, was immer das bedeutet. Zwischen halbem Deutsch und halbem Dänisch hört sie etwas, was nach Sturmflut klingt. Und er schiebt nach, jemand — den Namen versteht sie nicht ganz, er klang nach Fritsch oder ähnlich — habe gesagt, ihr wisst, was zu tun ist!

      Eine halbe Stunde später erscheint Ben mit Heufäden am Pullover und mit ebenso bestaubten Händen, wie die Kleider der Frau bestaubt waren, gestern, was vermutlich von dem Trog herrührt, in dem das Trockenfutter lagert.

      Eine Zeit lang prüft sie unmerklich, wie seine Laune ausfällt. Sie kennt den Grund für Bens Verstocktheit stets genau, heute sie akzeptiert sie ihn sogar. Ober ohne ein Wort wendet sie sich dem Gemüse für den Auflauf zu, das zu putzen und zu schneiden sie sich vorgenommen hatte. Sie prüft die beiden Herde, von denen einer mit Strom, der andere mit Gas funktioniert. Sie entscheidet sich für den mit Stromanschluss, weil ihr Gas im Haus schon seit Jahren gefährlich erscheint.

      Erst als sie die Formen in den etwas nostalgischen Herd schiebt und die Hitze aus der Röhre ihr Gesicht zu röten scheint, erinnert sie sich an den Anruf.

      »Da war einer«, sagt sie vorsichtig, »Da draußen … Er sagte etwas von Sturm und dass wir wüssten, was zu tun ist. «

      Ida und Ben wissen es natürlich nicht. Aber Ben verspricht, nach dem Gerät zu schauen, ob er den Anruf wiederherstellen kann. Das tut er ausnahmsweise sofort und vermutlich sehr gern. Damit ist er für eine weitere Zeit wieder aus ihrem Blickfeld und sie müssen nicht über die verunglückte Annäherung da draußen reden.

      Während des Essens sitzen sie stumm beieinander. Sie spürt, wie er ständig nach ihr schielt, aber sie hat nichts zu sagen. Was auch?

      »Ich konnte den Anruf nicht wieder aktivieren, muss mich erst mit dem Gerät vertraut machen«, sagt Ben kurz und so abschließend, dass sie keinen Anlass sieht, etwas zu erwidern. Dann lehnt er sich auf der Sitzbank zurück, nimmt sein Mobiltelefon in beide Hände und sucht nach einer Anleitung für das, was er Funkgerät nennt.

      Zum Glück, denkt Ida, hat er sich das neueste iPhon von Apple geleistet, das er auch seinen Kindern stolz präsentiert hat. Erst vor einem Jahr war diese Neuerung auf den Markt gekommen. Ben ist in diesen Dingen eher konservativ, wartet, was die Kritiken sagen, aber in diesem Fall hat er Weitsicht bewiesen, sofern ihn nicht purer Besitzerstolz erfasst hat.

      Nachdem Ida mit dem Spülen fertig ist, dasselbe Bild, bis Ben sagt: »Verdammt. Es wäre doch gelacht, dass wir es das nächste Mal nicht besser machen können.« Das kann man so oder so sehen, denkt Ida. Entweder er kommt mit dem, was er vorhat, nicht voran, oder es war mal wieder eine versteckte Anspielung auf sie und ihre ungeschickte Reaktion. Und sie denkt: Dann mach es doch besser! Herrgott…! Bei der wortkargen Frau hatte sie nur einen einzigen Handgriff gesehen, wie bei jedem Telefon.

      Tief atmend steht Ben wieder auf und geht ins Nebenzimmer. Auf der Plüsch-Couch nimmt er jene Pose ein, die ihr auch zuhause sagt: Stör ihn jetzt bloß nicht. Und das kommt ihr sogar recht.

      Da steht sie nun mit einem fast zu Tode verletzten Herzen und mit brennendem Vorwurf, alles vermasselt zu haben. Sie wollte alles dafür tun, dass ihre Ehe wieder einen Aufschub bekommt. Jetzt wird sie wohl alles tun müssen, den Ehefrieden zu retten, auch wenn sie den noch keinen Tag infrage gestellt hat. Sie wollte mit diesem einsamen Urlaub sehnlichst erreichen, dass alles wieder wird wie früher, und dann fallen ihr im ungeeignetsten Moment die dämlichen Hühner fremder Leute ein. Wie idiotisch ist sie denn? Wer hätte sie hier — wobei auch immer — beobachten können? Wie weit wäre Ben gegangen? Sicher nicht bis zum Äußersten, bei aller Abgeschiedenheit. Hier ist man verraten und verkauft, vergessen und begraben…

      Nach dieser Selbstbezichtigung sucht sie krampfhaft auch nach seinem Anteil, um sich besser zu fühlen: Warum fällt ihm auch ausgerechnet dort ein, dass es noch etwas wie Körperlichkeit gibt zwischen zwei Eheleuten. Haben wir keine andere Gelegenheit? Und wie oft ging es mir ähnlich und er hatte noch eine wichtige Sache am Laufen.

      Am zweiten Tag müssen beide denselben Vorsatz getroffen haben, sie wollen alles besser machen. Es scheint, als wäre die alte Harmonie aus dem Nichts zurückgekehrt, nur mit Bens Berührungen sieht es spärlicher aus als erhofft. Sie erkunden die Insel und sie spüren die Wirkung des Klimas und die Wirkung der Abgeschiedenheit, die ihnen sagt: Nur du und dein Mann sind hier und wir müssen uns aufeinander verlassen.

      So geht auch der zweite, ein ebenso klarer Tag aber mit deutlich mehr Wind ohne Probleme zu Ende.

      Ida sagt: »Es war doch ein schöner, ein fast aufregender Tag.« Dieselbe Ansicht glaubt Ida auch bei Ben zu fühlen. Jedenfalls war der Tag nicht so öde, nicht so gegenseitig abweisend wie befürchtet, und es werden all die weiteren Tage, die sie hier verbringen wollen, nicht mehr öde, nicht mehr abweisend sein. Das nimmt sie sich vor. Es liegt an ihnen, an niemand sonst.

      Sie ist schon vorausgegangen und räkelt sich in den ländlich bunten Kissen. Ben braucht, wie auch zuhause, für einen Mann ziemlich lange bei seiner Abendtoilette.

      Als er kommt, schielt sie nach ihm. Er duftet, anders als daheim, nach Mandelseife. Seine gut gebräunten Arme mit den hervorstehenden Adern glänzen, und die Härchen auf der Haut um seinen Hals sind hochgerichtet, als reckten sie sich wie ein erektiles Glied. Wie erotisch er noch ist, wie er sie noch elektrisieren kann. Ida wünscht sich, dass sie bei ihm noch ebensolche Gefühle erzeugen könnte, was ihr nach ihrem Verhalten am Ufer nur noch schwer fällt zu glauben. Als er seine Hand nach ihr ausstreckt, hält sie den Atem an. Er beugt sich noch einmal zu ihr herüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie spürt, dass er näher bei ihr liegen bleibt als zuhause, zögernd vielleicht, was er tun soll. In dieser Atmosphäre von tiefer Nähe, von erhoffter Intimität, die sie kaum noch so erlebt hat, hat sie das Gefühl, unter der Decke nach Ben greifen zu müssen, genau dort, wo er so sehr erregbar ist, dass er noch nie widerstanden hat. Aber sie tut es nicht, wartet, dass er wie immer den Anfang macht.

      Und dann … nicht lang danach erlebt sie das Gefühl streichelnder Hände über ihrer Haut, über ihrer Brust, über Bauch und Schenkel. Ihr beider Atem vermischt sich zu einem und ihre Hand spielt in den wundervollen Haaren ihres Geliebten Benjamin Winter von der Abi-Klasse. Wie lange ist das her? Undenkbar lange.

      An diesem Abend erlebt sie wieder wie einst, wie sich ihr Schweiß vermischt, wie sich ihre Körper ergeben in dem Gefühl, den anderen zu brauchen, noch immer verrückt nach ihm zu sein und es ewig zu bleiben.

      Ben ist so voller Begierde, dass er gar nicht merkt, im nächsten Moment wie ein Hengst über sie herzufallen. Es ist wie verhext. Heute genießt sie seine Unerbittlichkeit mit Wonne. Trotz seiner Heftigkeit reagiert auch sie mit viel zu starken Gefühlen auf ihn. Diese Augenblicke, die sie männliche Besessenheit nennt, hat sie bis gestern nicht gemocht an ihm, aber wenn sie ehrlich ist, braucht sie gerade jetzt Bens Zuwendung, Bens Anerkennung, Bens Geflüster, mit dem er ihr die Ewigkeit verspricht. Sie hat sie schon immer gebraucht, erst dann fühlte sie sich wirklich geliebt. Und wenn ihn nichts anderes zu diesen Bekenntnissen bringt, dann eben auch ihr Nachgeben auf seine Unerbittlichkeit.

      In dieser Nacht bricht das Eis, das nur vom Stress gezeugt hat, redet sie sich ein. Heute erdulden die meisten Business-Leute zu viel Stress und können daher keine Kraft mehr für die schönen Seiten des Lebens aufbringen.

      Nachdem sich beide vom Zustand höchster Erregung ausgeruht haben, kugeln sie noch einmal kichernd übereinander her, als waren sie und blieben sie nun für immer in dieser vollkommenen Übereinstimmung ihrer Gefühle. Wie nur selten liebkost Ben ihre Lippen, leckt ihre Haut wie eine junge Katze ihre Milch, dann lacht er leise


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