Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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des Todes sah, hatten allerhöchstens noch 72 Stunden zu leben.

      Als die U-Bahn langsamer wurde, weil sie sich der nächsten Station näherte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Ich wusste, dass jeder Versuch, den Mann vor seinem Schicksal bewahren zu wollen, zum Scheitern verurteilt war. Zumindest hatte es in all den vorherigen Fällen, in denen ich es versucht hatte, nicht funktioniert. Ich ging daher davon aus, dass sein Tod schon jetzt vorherbestimmt war und von niemandem verhindert werden konnte. Aber vielleicht war es ja dieses Mal anders. Vielleicht konnte ich es dieses Mal schaffen.

      Ich seufzte, als die U-Bahn mit einem Ruck anhielt, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ. Ich hatte es nämlich nicht mehr gewagt, mich irgendwo festzuhalten. Ich hatte Angst, ich könnte noch einmal versehentlich direkten Körperkontakt zu jemandem bekommen, der zufälligerweise innerhalb der nächsten drei Tage sterben würde. Denn nur dann war ich in der Lage, das Totengesicht der betreffenden Person zu sehen. Zum Glück war das Gedränge so groß, dass ich nicht umfallen konnte. Allerdings stieß der Mann vor mir, den ich anrempelte, ein ärgerliches Grunzen aus.

      Ich behielt meine bloßen Hände dicht am Körper, als ich in der Menge wie in einem Fischschwarm aus der U-Bahn und auf den Bahnsteig geschwemmt wurde. Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, dass ich mir auch im Sommer dünne Handschuhe anzog, um mich vor unliebsamen Berührungen und dem Anblick der Totengesichter zu schützen. Auch wenn meine Hände darin schwitzen würden und ich damit vermutlich wie der letzte Idiot aussah. Aber ich wollte nicht wissen, ob die Menschen, denen ich begegnete, demnächst sterben mussten, da dieses Wissen mich stets vor die alles entscheidende Frage stellte, was ich damit anfangen sollte. Sollte ich dem Schicksal, das ich anscheinend ohnehin nicht verändern konnte, einfach seinen Lauf lassen und untätig bleiben? Oder sollte ich die dem Tode geweihte Person verfolgen, weil ich die Hoffnung trotz aller Fehlschläge in der Vergangenheit noch immer nicht völlig aufgegeben hatte? Denn wozu sollte meine Gabe – oder der Fluch – denn sonst gut sein, wenn ich gar nicht in der Lage war, etwas zu verändern?

      Ohne dass es mir sofort bewusst geworden war, hatte ich mich an den Rand der Menschenmasse schwemmen lassen, die wie eine Herde Schafe zur Rolltreppe strömte. Ich blieb vor der gekachelten Wand der U-Bahnstation stehen, wandte mich um und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Es sah so aus, als hätte ich meine Entscheidung, was ich tun sollte, längst gefällt, völlig intuitiv und ohne bewusst darüber nachzudenken.

      Zuerst dachte ich, der Mann, dessen Totengesicht ich gesehen hatte, wäre längst weg oder in der U-Bahn geblieben, denn die Menge vor mir lichtete sich merklich. Doch dann entdeckte ich ihn. Er hatte sich etwas zurückfallen lassen, um dem dichtesten Gedränge zu entgehen, und gehörte zu den Nachzüglern, die sich in Richtung Rolltreppe bewegten.

      Obwohl ich ihn nur von hinten sah, erkannte ich ihn dennoch sofort wieder. Er trug einen schwarzen, für meine Begriffe sehr teuer wirkenden zweiteiligen Businessanzug und schwarze Budapester. Sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war schon leicht ergraut und auf der linken Seite seines Kopfes gescheitelt. Der Scheitel war schnurgerade und sah aus, als wäre er mit einer Axt gezogen worden. Außerdem trug er eine Brille, deren Bügel ich hinter seinen zu groß geratenen, leicht abstehenden Ohren erkennen konnte. Ich wusste auch, dass er eine dunkelbraune Aktentasche bei sich hatte, obwohl ich sie von hinten nicht sehen konnte, denn er trug sie mit beiden Händen umklammert vor der Brust, als hätte er Angst, jemand könnte sie ihm entreißen. Die Tasche und die Art, wie er sie hielt, waren mir beiläufig aufgefallen, als ich ihn in der U-Bahn von vorn gesehen hatte, unmittelbar nachdem wir uns zufällig berührt hatten.

      Ich fragte mich natürlich, was er bei sich hatte, dass er so besorgt darüber zu sein schien, es könnte ihm gestohlen werden. Es musste etwas Wichtiges sein. Andererseits konnte man im dichten Gedränge der U-Bahn, in der Taschendiebe leichtes Spiel hatten, nicht vorsichtig genug sein.

      Bevor der Mann die Rolltreppe erreichte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung. Ich sah auf die Uhr, die über dem Bahnsteig hing. Es war kurz vor fünf Uhr am Nachmittag, doch ich hatte noch genügend Zeit, bevor ich mich in einem Café ganz in der Nähe mit einem Bekannten treffen wollte.

      Im Gegensatz zu mir schien es der Todgeweihte jetzt allerdings doch eilig zu haben, denn er ging die Stufen der Rolltreppe hinauf, um schneller oben zu sein. Ich folgte seinem Beispiel und passierte all die anderen Leute, die es gemächlicher angingen und sich nach oben tragen ließen.

      Die Rolltreppe brachte uns ins Freie und zurück ins helle Tageslicht. Zum Glück regnete es nicht, obwohl der Himmel dicht bewölkt und düster war, denn ich hatte keinen Schirm dabei. Einen längeren Spaziergang im Freien hatte ich schließlich nicht eingeplant gehabt, als ich von zu Hause losgegangen war.

      Nachdem der Mann von der Rolltreppe auf den Bürgersteig getreten war, blieb er kurz stehen und sah sich um, als müsste er sich orientieren. Vielleicht war er in diesem Teil von München noch nie zuvor gewesen. Ich blieb auf der Stufe der Rolltreppe, auf der ich mich gerade befand, stehen und ließ mich den Rest der Strecke nach oben tragen, denn ich wollte ihn nicht einholen.

      Zum Glück hatte er sich schon alsbald orientiert und setzte sich in Bewegung, bevor ich oben ankam. Er wandte sich nach rechts und marschierte zügig auf die nächste Straßenkreuzung zu. Zweifellos wollte er eine der Straßen überqueren, die sich dort trafen. Ich folgte ihm im selben Tempo, um ihn nicht zu verlieren. Als er am Straßenrand anhielt, weil die Fußgängerampel Rot zeigte, ging ich langsamer. Nachdem die Ampel auf Grün geschaltet hatte, eilte er weiter und überquerte die Straße. Auch ich erhöhte mein Tempo wieder und bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten.

      So ging es die nächsten 20 Minuten. Allerdings wunderte ich mich schon bald, wohin der andere wollte, denn er schien kein festes Ziel zu haben. Stattdessen marschierte er kreuz und quer durch die Straßen. Immer wieder änderte er scheinbar willkürlich die Richtung. Ich kannte mich in dieser Gegend ein wenig aus, da ich schon öfter in der Nähe zu tun gehabt hatte, dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, wohin der Mann unterwegs war. Schon nach wenigen Minuten erschien es mir beinahe so, als wollte der Todgeweihte durch sein unvorhersehbares Verhalten und seine überraschenden Richtungsänderungen etwaige Verfolger abhängen. Andererseits sah er sich kein einziges Mal um, ob er tatsächlich verfolgt wurde. So bestand auch nie die Gefahr, dass er mich entdecken könnte. Dann kam mir der Gedanke, dass er möglicherweise eine Verabredung hatte, zu früh dran war und nun die Zeit totschlug, indem er scheinbar ziellos durch die Gegend wanderte und sich seinem Ziel nicht direkt, sondern über Umwege näherte.

      Ich fragte mich aber auch, ob sein merkwürdiges Verhalten etwas mit dem Inhalt der Aktentasche zu tun hatte, die er die ganze Zeit über, selbst nachdem er aus dem dichten Gedränge der U-Bahn heraus war, fest an seine Brust presste und mit beiden Armen umklammert hielt. Und vielleicht hatte all das ja auch etwas mit seinem Tod zu tun, der ihn demnächst unweigerlich ereilen würde. Denn obwohl ich in seinem Gesicht das Antlitz des Todes gesehen hatte, wusste ich natürlich nicht, wie und woran er sterben würde. Die Totengesichter zeigten mir nur, dass jemand starb, jedoch nicht die Ursache seines Todes. In den letzten Monaten war ich diversen Todgeweihten gefolgt, die innerhalb der nächsten 72 Stunden aus den unterschiedlichsten Gründen verstorben waren: Krankheit, Unfall oder Selbstmord. Der Tod selbst kam dabei für mich im Gegensatz zu den Todgeweihten selbst nicht überraschend, nur der exakte Zeitpunkt und die Ursache waren mir unbekannt.

      Nach 20 Minuten scheinbarem Umherirren betrat der Mann schließlich ein Parkhaus.

      Ich runzelte irritiert die Stirn, während ich nachdachte. Denn wenn der andere dort seinen Wagen geparkt hatte, einstieg und wegfuhr, konnte ich ihm nicht länger folgen. Was sollte ich also tun? Ein Taxi rufen und mich an der Ausfahrt des Parkhauses postieren, um ihn abzufangen, wenn er herausfuhr? Wenn ich in dieser Gegend überhaupt so schnell ein Taxi bekam. Andererseits, argumentierte die rationalere Hälfte meines Verstandes, wäre es auch kein Beinbruch, wenn ich den Mann nicht weiter verfolgen könnte. Denn ihn retten und sein vorherbestimmtes Schicksal verhindern konnte ich wohl ohnehin nicht.

      Allerdings hatte ich die Hoffnung, irgendwann doch einmal etwas bewirken zu können, noch immer nicht aufgegeben. Nur deshalb folgte ich ihm bis ins Parkhaus und hoffte, dass ich schon irgendeine Möglichkeit finden würde, um ihm weiterhin auf den Fersen zu


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