Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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auf. Ich hatte sie seit meinem Unfall, so wie ich seit dem Erwachen aus dem Koma bei direktem Körperkontakt auch die Totengesichter der Menschen sehen konnte, die in Kürze starben. Ich wusste nicht, was ich mehr verabscheute. Meistens meine merkwürdige Fähigkeit, denn dabei war ich ohnehin nur ein hilfloser Zuschauer und konnte nicht das Geringste ausrichten. Außerdem jagte mir diese Gabe noch immer eine Heidenangst ein, weil ich nicht verstand, wie so etwas überhaupt möglich war und warum ausgerechnet ich damit gestraft worden war. Nur wenn die Kopfschmerzen besonders stark waren, war es mir lieber, das Antlitz des Todes auf den Gesichtern eines Todgeweihten zu sehen, denn das war wenigstens nicht mit Schmerzen verbunden.

      Als ich aus der U-Bahn auf den Bahnsteig trat, spürte ich bereits, dass die Schmerzen, die gerade eben mit einem kräftigen Pochen gegen die Tür meines Verstands ihren Besuch angekündigt hatten, heftig werden würden. Daher beschloss ich, auf der Stelle ein paar Schmerztabletten zu nehmen, um sie so früh wie möglich zu bekämpfen. Ich hatte zwar noch mehr als genug Zeit bis zu meinem Termin in der Werbeagentur, weil ich ohnehin vorgehabt hatte, vorher noch in einem Café in aller Ruhe einen Cappuccino zu trinken, doch da der Auftrag lukrativ und wichtig war, wollte ich bis dahin wieder in einer möglichst präsentablen Verfassung sein.

      2

      Auf dem vollen U-Bahnsteig suchte ich mir einen freien Platz vor der Wand, stellte die Mappe zwischen meinen Füßen hochkant auf den Boden, und holte die Tablettenschachtel, die ich in weiser Voraussicht immer bei mir trug, aus der linken Brusttasche meiner schwarzen Lederjacke. Ich versuchte, die Schachtel zu öffnen, doch mit den Handschuhen war das gar nicht so einfach, auch wenn sie nur aus dünner Baumwolle bestanden. Vermutlich hätte ich es sogar geschafft, doch die einzelnen Tabletten anschließend aus der Durchdrückpackung zu entfernen, ohne sie fallen zu lassen, wäre noch viel schwieriger geworden. Also zog ich kurzerhand den rechten Handschuh aus und steckte ihn in die Seitentasche meiner Jacke. Als ich die Schachtel öffnete und hineinfasste, drückte ich versehentlich einen der Tablettenstreifen gegen die untere Lasche, die schon etwas eingerissen war und sich daraufhin öffnete.

      »Mist!«, fluchte ich leise, als ein Blisterstreifen aus der Packung rutschte und vor meinen Füßen auf den Boden fiel. Ich ging sofort in die Hocke und griff mit der freien Hand danach, als gleichzeitig eine andere Hand von der Seite danach fasste und sich unsere Finger unweigerlich berührten, noch ehe ich es verhindern konnte.

      Es gab keinen elektrischen Funken, der von einer Hand zur anderen übersprang, trotzdem riss ich meine Hand zurück, als hätte ich eine heiße Herdplatte angefasst. Ich richtete mich ruckartig auf und sah auf die Finger meiner Hand, mit denen ich fremde Haut berührt hatte, als trügen sie die Schuld an dem unabsichtlichen Körperkontakt.

      »Hier, Ihre Tabletten«, sagte jemand zu mir.

      Ich hob erschrocken den Blick, sah zuerst die in meine Richtung gestreckte Hand mit der Durchdrückpackung zwischen den Fingern und dann das Gesicht der Person, die ich berührt hatte, weil wir im selben Augenblick nach meinen Tabletten gegriffen hatten.

      Bis zu diesem Moment hatte ich noch gehofft, ich hätte niemanden vor mir, der innerhalb der nächsten 72 Stunden sterben würde, schließlich war nicht jeder automatisch ein Todgeweihter, nur weil ich ihn berührte. Bei den meisten Körperkontakten seit meinem Erwachen aus dem Koma war auch nichts geschehen. Ich hatte die Menschen angesehen, und kein totenkopfförmiger Schatten hatte ihre Gesichter überlagert. Deshalb hatte ich meine furchtbare neue Fähigkeit am Anfang auch eine Zeitlang gar nicht bemerkt.

      Doch als ich nun in das Gesicht der hilfsbereiten Person vor mir blickte, war davon kaum etwas zu sehen, weil ein Schatten darauf lag und ihre Gesichtszüge vor mir verbarg. Ich erschauderte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

      »Alles in Ordnung mit Ihnen«, fragte mein Gegenüber in besorgtem Tonfall. Es war unheimlich, dass das Totengesicht mit mir sprach, denn durch die Finsternis konnte ich nur undeutlich erkennen, wie sich die Lippen der Person bewegten. Außerdem klang ihre Stimme völlig normal, und ich erkannte zum ersten Mal, dass es sich um eine Frau handelte. »Was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?«

      Ich schluckte und wandte rasch den Blick ab. »Es … es geht schon wieder«, sagte ich, bückte mich und griff nach meiner Arbeitsmappe. Dann wandte ich mich ohne ein weiteres Wort ab und ging eilig davon.

      »Warten Sie, Ihre Tabletten!«, rief mir die Frau hinterher, doch ich reagierte nicht darauf, sondern zog stattdessen den Kopf ein und schlängelte mich durch die Menge, die auf die nächste U-Bahn wartete. Erst nach zwanzig bis fünfundzwanzig Schritten legte sich der Schock darüber, dass ich schon wieder das Antlitz des Todes im Gesicht eines lebenden Menschen gesehen hatte, ein wenig, und ich kam wieder zur Besinnung. Ich blieb stehen, wandte mich um und reckte mich, um über die Köpfe der Leute einen Blick auf die Frau zu werfen, die mir nur hatte helfen wollen und die ich dennoch so brüsk und undankbar behandelt hatte. Natürlich wusste ich genau, warum ich so reagiert hatte. Im ersten Augenblick hatte ich nämlich ihr die Schuld an unserem Körperkontakt gegeben. Dabei konnte sie gar nichts dafür, schließlich wusste sie nichts von meiner Fähigkeit und hatte nur hilfsbereit sein wollen. Wenn jemand schuld war, dann nur ich selbst, weil ich den Handschuh ausgezogen hatte.

      Nur weil ich das getan hatte, wusste ich jetzt, dass die Frau nicht mehr lange zu leben hatte. Und dieses ungewollte Wissen lastete wieder einmal schwer auf mir. Denn wie schon all die Male zuvor und trotz der Erkenntnis, dass ich ihr Schicksal nicht verhindern konnte, war ich dennoch nicht in der Lage, ihr einfach den Rücken zuzukehren und meines Weges zu gehen, als wäre nichts geschehen. Das Wissen um ihren baldigen Tod, das ich als einzige Person auf dieser Welt besaß, war eine schwere Bürde, denn jetzt fühlte ich mich unweigerlich für sie verantwortlich. Und weil ich die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben hatte, nur weil bisher jeder Rettungsversuch gescheitert war, konnte ich sie nicht einfach sich selbst überlassen.

      Die Frau stand noch immer an derselben Stelle, an der ich sie zurückgelassen hatte, sah allerdings nicht in meine Richtung. Stattdessen starrte sie auf die Tablettenpackung in ihrer Hand, als könnte sie dort die Erklärung für mein Verhalten ablesen. Dann schüttelte sie jedoch ungläubig den Kopf und steckte die Tabletten in die Tasche ihrer blauen Jeansjacke, die sie neben einer weißen Bluse, einer engen Bluejeans und hellbraunen Slippern trug. Da der düstere Schatten über ihrem Gesicht schon wieder verblasst war, konnte ich zum ersten Mal ihr Gesicht deutlicher sehen. Ihre Augenfarbe konnte ich zwar nicht erkennen, dennoch sah ich auch aus dieser Entfernung, dass sie ausgesprochen gut aussehend war. Sie hatte ein schmales ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem spitzen Kinn. Ihre Nase war dünn und gerade und der Mund ziemlich schmal. Ihre in einem dunklen Pink geschminkten Lippen waren voll, aber nicht wulstig. Sie war schätzungsweise Ende zwanzig, Anfang dreißig, also vermutlich nur ein paar Jahre jünger als ich. Ihr Haar war auffallend dunkel und fiel ihr in leichten Wellen bis über die Schultern.

      Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mir schon in der U-Bahn aufgefallen war, weil sie als Einzige in meine Richtung geblickt, mich allerdings nicht direkt angesehen hatte. Sie musste als eine der letzten Fahrgäste ausgestiegen sein oder war vielleicht aus anderen Gründen aufgehalten worden und deswegen genau in dem Moment an mir vorbeigegangen, als mir die Tablettenpackung heruntergefallen war.

      Und jetzt wusste ich, dass sie demnächst sterben würde!

      Ich seufzte schwer, als sie sich abwandte und in die andere Richtung in Bewegung setzte. Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr, die über dem U-Bahnsteig hing, aber ich hatte noch immer genügend Zeit bis zu meinem Termin in der Werbeagentur. Also beschloss ich, ihr eine Weile zu folgen. Vielleicht erfuhr ich ja, wohin sie ging oder wo sie wohnte, bevor ich umkehren und zur Agentur gehen musste. Und wenn nicht, dann konnte ich auch nichts daran ändern. Dann würde mir die Verantwortung für ihr Schicksal gewissermaßen aus der Hand genommen werden.

      Ich steckte die Tablettenschachtel ein, die ich noch immer in der Hand gehalten hatte. Dann zog ich auch den linken Handschuh aus, da ich die Handschuhe in der Regel nur im dichtesten Gedränge in der U-Bahn trug, und schob ihn zu seinem Kameraden in die Jackentasche, ehe ich mich ebenfalls in Bewegung setzte und beeilte, zu der Frau aufzuschließen, damit ich


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