Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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vor den Kassenautomaten stehen bleiben würde, um zu bezahlen, und mich bereits nach einer günstigen Stelle umgesehen, an der ich ihn weiterhin im Auge behalten und darauf warten konnte, dass er weiterging. Doch er marschierte schnurstracks an der Schlange vor dem Automaten vorbei zur Treppe.

      Wenn er nicht bezahlte, dann konnte er das Parkhaus auch nicht mit dem Wagen verlassen. Demnach hatte er allem Anschein nach gar nicht vor, sein Auto abzuholen. Was hatte er aber dann in einem Parkhaus zu suchen? Während ich selbst die Warteschlange passierte, fiel mir die Aktentasche wieder ein. Entweder wollte er sie im Auto deponieren und einschließen, oder er hatte vor, etwas aus seinem Wagen zu holen.

      Ich nahm ebenfalls die Treppe und lief nach oben. Die Stufen und Absätze bestanden aus Stahlgittern und vibrierten lautstark unter meinen Schritten, obwohl ich möglichst leise auftrat. Allerdings konnte ich dadurch auch die Schritte des anderen hören und ihn durch die Lücken in den Gittern undeutlich erkennen, wenn ich nach oben sah. Auf diese Weise bekam ich auch genau mit, wann und wo er das Treppenhaus verließ und welche Parkebene er betrat.

      Ebene 3 stand auf der grauen Stahltür, durch die er gegangen war. Ich wartete noch ein paar Sekunden, um ihm genügend Zeit zu geben, sich von der Tür zu entfernen, und mir gleichzeitig eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, damit ich nach dem Treppensteigen wieder zu Atem kam. Erst dann öffnete ich die Tür vorsichtig einen Spaltbreit und spähte durch diesen auf die Parkebene.

      Ich entdeckte den anderen Mann sofort, denn er entfernte sich, ohne sich umzusehen, mit großen Schritten von der Tür. Beruhigt, dass er schon weit genug weg war und mir nicht auflauerte, weil er unter Umständen bemerkt hatte, dass ich ihn verfolgte, öffnete ich die Tür so weit, dass ich durch den Spalt auf das Parkdeck schlüpfen konnte. Zum Glück knarrte die Tür beim Öffnen nicht, denn dann hätte er sich gewiss umgedreht. Und sobald er mich zu Gesicht bekäme, würde er mich sicher auch erkennen, weil ich ihn in der U-Bahn so entgeistert angestarrt hatte. Einer direkten Konfrontation wollte ich allerdings nach Möglichkeit so lange wie möglich aus dem Weg gehen, denn wie hätte ich ihm erklären können, warum ich ihm folgte, ohne dass er mich für einen durchgeknallten Irren hielt. Außerdem hatte ich festgestellt, dass andere Menschen es einem mitunter sehr übelnahmen, wenn man ihnen ins Gesicht sagte, dass sie spätestens in drei Tagen tot sein würden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wer will schon wissen, dass er demnächst stirbt. Noch dazu, wenn man daran, so wie es bislang aussah, nicht das Geringste ändern konnte.

      Ich ließ die Tür leise hinter mir ins Schloss gleiten, damit sie nicht zufiel, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Allerdings ging ich nicht, so wie der andere es tat, auf der Fahrspur zwischen den geparkten Fahrzeugen, sondern benutzte die auf der rechten Seite abgestellten Autos als Deckung und bewegte mich zwischen ihnen und der Seitenwand entlang. So konnte ich mich jederzeit hinter ein Fahrzeug ducken, falls sich der andere doch plötzlich umsah, auch wenn er das bislang kein einziges Mal getan hatte.

      Wie gut ich daran tat, zeigte sich keine zwanzig Sekunden später, denn urplötzlich blieb der Mann stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Er schien angestrengt zu einem bestimmten Parkplatz zu starren. Dann holte er mit der freien Hand einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts und sah zuerst darauf und dann wieder zum Parkplatz, auf dem ein schwarzer BMW X6 stand. Mir kam es vor, als würde er die Nummer des Parkplatzes oder des Wagens mit der vergleichen, die auf dem Zettel stand. Schließlich nickte er und sagte etwas, das ich auf diese Distanz – uns trennten mindestens zehn Meter – allerdings nicht verstehen konnte.

      Ich musste vorausgeahnt haben, was er als Nächstes tat, denn ich tauchte bereits ab und ging hinter dem Toyota in Deckung, noch ehe er begann, sich umzuwenden und in alle Richtungen zu sehen, als wollte er sichergehen, dass wirklich niemand in der Nähe und er vollkommen allein auf der Parkebene war. Nach zehn Sekunden, die ich in Gedanken abzählte, hob ich den Kopf wieder vorsichtig und spähte über das Autodach hinweg. Ich erschrak, als ich ihn nicht mehr sah, und richtete mich vollständig auf. Doch im selben Moment richtete auch er sich vor dem geparkten X6 auf, wandte sich rasch ab und entfernte sich mit eiligen Schritten.

      Ich war verwirrt, daher ließ ich einige Momente verstreichen, ehe ich ihm folgte, und dachte nach. Da ich in Deckung gegangen war, um nicht entdeckt zu werden, hatte ich nicht gesehen, was der Mann in dieser Zeit getan hatte. Aber wenn er den Kofferraum, vor dem er gestanden hatte, geöffnet hätte, dann hätte ich das mit Sicherheit hören müssen. Was hatte er aber dann dort gemacht?

      Da ich allein durch Nachdenken diese Frage nicht beantworten konnte, schüttelte ich kurzerhand den Kopf und beeilte mich, dem todgeweihten Mann zu folgen, der inzwischen das Treppenhaus auf der anderen Seite des Parkdecks erreicht hatte und soeben die Tür öffnete. Sobald er außer Sicht und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lief ich los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ich erreichte die Tür, auf der Ausgang Nord stand, nur wenige Sekunden, nachdem er verschwunden war, verschnaufte kurz und öffnete die Tür dann langsam. Ich lauschte und konnte seine Schritte auf den Gitterstufen der Treppe unterhalb meines Standorts hören.

      Ich huschte ins Treppenhaus und schloss die Tür zum Parkdeck leise hinter mir. Dann ging ich ebenfalls die Stufen nach unten. Da ich nicht verhindern konnte, dass die Stahlgitterkonstruktion unter meinen Schritten erbebte und Lärm verursachte, bemühte ich mich, meine Schritte im Gleichklang mit denen des Mannes zu setzen, dem ich folgte. Allerdings waren auch noch andere Leute im Treppenhaus, kamen von den anderen Parkebenen oder waren zu diesen unterwegs, sodass ich nicht auffiel und nur einer unter vielen war.

      Nachdem wir wieder unter anderen Menschen waren, fiel es mir leichter, ihm unauffällig zu folgen. Außerdem musste ich nicht mehr so großen Abstand halten, da ich mich in der Menge verstecken konnte. Als wir im Erdgeschoss ankamen, ignorierte der andere erneut die Kassenautomaten und ging in Richtung Ausgang. Ich schwamm erneut mit dem Strom, als ich ihm folgte, denn alle wollten rasch das Parkhaus verlassen.

      Der Todgeweihte trat auf den Bürgersteig vor dem Gebäude. Wegen der anderen Menschen zwischen uns verlor ich ihn für einen Moment aus den Augen, doch dann konnte ich zwischen den Köpfen der anderen hindurch erkennen, dass er nach links und rechts sah, bevor er auf die Straße trat.

      Erneut wurde mir die Sicht versperrt, als ein Zeitgenosse, der mich um mindestens einen halben Kopf überragte, sich vor mir einreihte. Doch das störte mich nicht, denn der andere Mann war nur wenige Meter vor mir und überquerte gerade die Straße, sodass ich ihn kaum verlieren würde.

      In diesem Moment brüllte ein Motor wie ein wildes Raubtier ohrenbetäubend laut auf, dann kreischten Reifen auf dem Asphalt, als ein Auto vehement beschleunigt wurde. Ich hörte einen dumpfen Schlag, dem sich ein kurzer Augenblick atemberaubender Stille anschloss, als hielte für den Bruchteil einer Sekunde die ganze Welt den Atem an. Zahlreiche Menschen in meiner Umgebung schrien gleichzeitig, riefen unverständliche Worte oder stöhnten kollektiv auf, während das Gebrüll des Motors stetig leiser wurde, weil sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit sehr rasch entfernte. Dann war noch einmal das Lärmen seiner Reifen zu hören, als er in der Ferne zu schnell um eine Ecke bog.

      Im ersten Moment wusste ich nicht, was geschehen war, da mir die Sicht zur Straße noch immer verwehrt war. Doch wie bei einem Puzzle, das ausschließlich aus Geräuschen bestand, setzte mein Verstand das Gehörte in eine furchtbare Ahnung um, die mir den Atem verschlug. Und das, obwohl ich schon vorher gewusst hatte, dass der Mann sterben würde, weil ich das Antlitz des Todes auf seinem Gesicht gesehen hatte. Aber dass es so schnell passieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

      Ganz plötzlich, nachdem für kurze Zeit jede Bewegung in meiner unmittelbaren Umgebung erstarrt gewesen war, drängte alles nach vorn in Richtung Straße, um einen Blick auf das Unglück zu erhaschen, das sich dort abgespielt hatte. Auch ich schob mich rücksichtslos durch die Menschenmenge, achtete allerdings dennoch darauf, dass ich niemanden mit den bloßen Händen berührte. Ein Totengesicht und die Gewissheit, dass ich es auch dieses Mal nicht hatte verhindern können, reichten mir für einen Tag vollkommen.

      Indem ich mich durch schmale Lücken zwängte und, wenn es sein musste, auch meine Ellbogen einsetzte, um mir Platz zu verschaffen, gelangte ich zum Rand des Bürgersteigs vor dem Zugang zum Parkhaus. Er schien eine unsichtbare Barriere für die Schaulustigen zu bilden, denn keiner


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