Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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nach rechts, um aus der direkten Schusslinie des Schützen zu kommen. Die Tür fiel krachend ins Schloss, unmittelbar gefolgt von den Geräuschen mehrerer Projektile, die das Türblatt durchschlugen und an mir vorbeisausten. Sie kamen so rasch aufeinander, dass ich nicht in der Lage war, sie zu zählen. Ich hoffte allerdings wider jede Vernunft, dass Carlo sein Magazin leer geschossen und keine Munition zum Nachladen bei sich hatte.

      Die Frau lief bereits die Stufen nach unten. Die erhöhte Todesangst der letzten Sekunden hatte mir zu einem Geschwindigkeitsschub verholfen, sodass ich wieder ein bisschen aufgeschlossen hatte. Ich folgte ihr und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf meine Füße und die Stufen unter mir, um nicht zu stolpern. Die geschlossene Wohnungstür würde den Mann immerhin ein paar Sekunden aufhalten. Außerdem war er mir trotz seiner Reaktionsschnelligkeit nicht wie jemand vorgekommen, der schnell laufen konnte. Wenn also nichts schiefging, mussten wir es aus dem Haus und auf die Straße schaffen. Und wenn wir erst einmal draußen waren, waren wir vermutlich auch in Sicherheit, da sich dort noch andere Menschen aufhielten und der Killer es doch sicherlich nicht wagen würde, in der Öffentlichkeit auf uns Jagd zu machen und zu schießen.

      Ich hatte gerade den ersten Treppenabsatz passiert und war um die Ecke gebogen, als ich hörte, wie über uns die Wohnungstür aufgerissen wurde. Wenigstens befand ich mich nun nicht mehr in direktem Schussfeld des Mannes. Außerdem hielt ich mich möglichst weit rechts an der Wand und so weit wie möglich vom Treppengeländer entfernt, falls der Mann auf den Gedanken kam, durch den Treppenschacht auf uns zu schießen. Wegen des Polterns unserer eigenen Schritte konnte ich nicht hören, ob der Mann uns verfolgte. Ich ging allerdings davon aus und wurde deshalb auch nicht langsamer. Und auch die Frau vor mir verringerte ihre Geschwindigkeit nicht.

      Ich war vollkommen konzentriert auf die Stufen unter meinen wirbelnden Füßen und die Stelle zwischen meinen Schulterblättern, die mir mit einem Kribbeln signalisieren würde, wenn ich erneut ins Visier des Killers geriet. Doch das geschah nicht, und so erreichten wir unbeschadet das Erdgeschoss und die offen stehende Haustür.

      Die Frau wollte sofort nach draußen rennen und wäre vermutlich sogar bis auf die Straße gelaufen, doch ich griff nach ihrem Arm und hielt sie auf, während ich gleichzeitig langsamer wurde und schließlich unmittelbar vor der Türschwelle stehen blieb.

      »Was ist?«, fragte sie schwer atmend, blieb aber stehen.

      Ich legte meinen Zeigefinger an meine Lippen, wandte den Kopf und horchte. Nachdem das Getrampel unserer Schritte verstummt war, hätte ich es hören müssen, wenn er uns verfolgte, doch im Hausflur war es plötzlich gespenstisch still. Falls einer der Anwohner den Lärm gehört hatte, so hatte er sich zumindest nicht darüber gewundert und die Wohnung verlassen, um nachzusehen, was das alles zu bedeuten hatte. Aber auch von dem Bewaffneten war nichts zu hören.

      Ich sah die Frau an und hob fragend die Augenbrauen.

      »Wo steckt er?«, fragte sie flüsternd.

      Ich zuckte mit den Schultern, doch dann kam mir ein erschreckender Verdacht. Ich schob mich neben die Frau, deren Arm ich längst wieder losgelassen hatte, bis ich auf der Türschwelle stand und deutete dann nach oben. »Vielleicht hat er ein Fenster geöffnet und wartet nur darauf, dass wir das Haus verlassen, um uns von dort oben zu erschießen«, sagte ich leise.

      Sie bekam große Augen und richtete den Blick unwillkürlich nach oben, obwohl von unserer Position aus natürlich nichts zu sehen war.

      »Ich werde vorgehen und nachsehen«, sagte ich. Keine Ahnung, woher ich in diesem Augenblick den Mut dazu nahm. Aber wir konnten auch nicht ewig hier herumstehen und darauf warten, dass der Killer herunterkam. Es war schließlich auch denkbar, dass er sich die Schuhe ausgezogen hatte und in diesem Moment vollkommen lautlos die Stufen nach unten schlich. »Wenn die Luft rein ist, folgen Sie mir. Aber halten Sie sich dicht an der Hauswand.«

      Sie nickte und knabberte an ihrer Unterlippe. Erst jetzt, aus der Nähe, bemerkte ich, dass sie sehr glatte, zarte Haut, leuchtend grüne Augen und einen Schönheitsfleck unter dem linken Auge hatte.

      »Okay!«, sagte ich, was allerdings eher dazu gedacht war, mir selbst Mut zu machen und das Startkommando zu erteilen, sonst hätte ich mich vielleicht doch nicht getraut, nach draußen zu gehen.

      Ich trat vorsichtig auf die Schwelle und schob dann den Oberkörper und den Kopf zaghaft nach draußen, während ich gleichzeitig den Kopf hob und nach oben sah. Ich konnte allerdings niemanden sehen, der sich aus einem der Fenster des Treppenhauses beugte. Von meiner Position sah ich aber auch nicht, ob die Fenster offen oder geschlossen waren. Also machte ich den nächsten Schritt und behielt dabei die Fensterreihe unmittelbar über mir aufmerksam im Auge. Noch immer konnte ich nichts erkennen, also tat ich einen weiteren, ein wenig größeren Schritt, bis ich mitten auf dem Gehsteig vor dem Haus stand und sehen konnte, dass alle Treppenhausfenster zu waren. So wie es aussah, war Carlo nicht auf den Gedanken gekommen, uns von dort oben abzuknallen. Vielleicht hatte er die Idee aber auch in Erwägung gezogen und wieder verworfen, weil es einfach zu viele Tatzeugen gegeben hätte, die ihn später identifizieren konnten, denn sowohl auf diesem als auch auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite waren insgesamt ungefähr zwei Dutzend Leute unterwegs. Und auch auf der Straße fuhren mehrere Autos vorbei.

      Ich stieß in einem Stoßseufzer die Luft aus, die ich unwillkürlich angehalten hatte, und atmete voller Erleichterung auf. Dann senkte ich den Blick und richtete ihn auf die Frau, die mich mit gerunzelter Stirn fragend ansah.

      Ich fragte mich, ob ich noch immer das Antlitz des Todes in ihrem hübschen Gesicht sehen würde, wenn ich sie in diesem Moment mit bloßen Händen berühren und Körperkontakt herstellen würde. Oder ob es mir tatsächlich gelungen war, sie nicht nur vor dem Killer zu retten, sondern ihr Schicksal dauerhaft zu verändern. Doch erstens scheute ich davor zurück, weil ich Angst vor der Erkenntnis hatte, ich könnte durch meine Aktion vielleicht gar nichts bewirkt haben. Und zweitens war jetzt nicht der richtige Moment dafür, weil wir noch nicht wirklich in Sicherheit waren. Also nickte ich ihr nur zu und sagte: »Die Luft ist rein. Kommen Sie!«

      Wir hielten uns dicht an der Hausmauer, während wir davoneilten und ab und zu einen Blick über die Schulter warfen, um nachzusehen, ob der Mann uns verfolgte. Von ihm war allerdings nichts mehr zu sehen, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

      Erst als wir die nächste Straßenecke erreichten und uns nach rechts wandten, fiel mir siedend heiß ein, dass ich meine Arbeitsmappe im Flur der Wohnung liegen gelassen hatte.

      7

      »Ich muss sofort zurück und meine Mappe holen!«, sagte ich.

      Ich wusste nicht, wie oft in diesen Satz in den letzten zwanzig Minuten wiederholt hatte.

      Und auch Alessias Antwort war stets dieselbe: »Sie können noch nicht zurückgehen, Rex. Vielleicht rechnet er damit und erwartet Sie dort. Warten wir lieber noch etwas ab.«

      Sie hatte natürlich recht, das war sogar mir klar. Aber die Vorstellung, dass meine Arbeitsmappe in ihrer Wohnung lag und möglicherweise von dem Mann gefunden wurde, der uns hatte töten wollen, verursachte mir Bauchschmerzen. All meine Kontaktdaten – mein Name, meine Anschrift, meine Telefonnummer und meine Email-Adresse – waren darin vermerkt. Es erfüllte mich mit eiskaltem Entsetzen, dass der Killer unter Umständen längst meinen Namen kannte und wusste, wo ich wohnte. Nicht zum ersten Mal an diesem verfluchten Tag fragte ich mich, in was ich da hineingeraten war. Ich seufzte resignierend und nahm einen Schluck von meinem Caffè Americano.

      Wir saßen in einem Starbucks in der Leopoldstraße unweit der U-Bahnstation Münchner Freiheit. Alessia hatte mich dazu überredet, dorthin zu gehen, um mehr Abstand zwischen uns und den Mann mit der schallgedämpften Pistole zu bringen, nachdem sie mich mehrmals davon abgehalten hatte, sofort umzukehren und in ihre Wohnung zurückzugehen. Obwohl ich mich an diesem Ort unter all den anderen Gästen halbwegs sicher fühlte, sah ich mich dennoch immer wieder um, ob Carlo uns nicht vielleicht doch bis hierher gefolgt und ganz in der Nähe war, um die angefangene Arbeit zu beenden.

      Ich setzte den Kaffeebecher ab und leckte mir über die Lippen. »Ich muss


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