Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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»Ich glaube nicht, dass er noch immer da ist.«

      »Ich auch nicht. Aber wir sollten dennoch weiterhin vorsichtig sein, bis wir uns dessen absolut sicher sind. Haben Sie Ihren Schlüssel dabei?«

      Sie nickte und griff gleichzeitig in die rechte Außentasche ihrer Jeansjacke. »Zum Glück hab ich ihn sofort wieder eingesteckt, nachdem ich die Wohnung betreten hatte, und nicht im Badezimmer irgendwo hingelegt. Ich wollte ja nur kurz ins Bad, um mich frischzumachen, und dann gleich wieder gehen, weil ich noch etwas zu erledigen hatte.« Sie brachte ein Schlüsseletui aus braunem Leder zum Vorschein, schüttelte es, bis ein Ring mit einem halben Dutzend Schlüsseln klirrend herauspurzelte, und ging dann zur Tür.

      Ich blieb, wo ich war, warf noch einmal einen Blick die Stufen hinauf und hinunter und sah mich dann auf dem Treppenabsatz um. Ich sah Löcher im Verputz der Wand, wo die Kugeln eingeschlagen waren. Auch in der Wohnungstür des Nachbarn, der laut Namensschild Wolfgang Kramer hieß, befanden sich zwei Einschusslöcher. Ich hoffte, dass die Projektile nicht mehr genug Durchschlagskraft gehabt hatten, um auch das Holz dieser Tür komplett zu durchdringen. Und falls doch, dann hatte hoffentlich nicht gerade Wolfgang Kramer dahinter gestanden, um durch den Türspion nachzusehen, wer im Treppenhaus so viel Lärm verursachte.

      Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn, wo Alessia noch immer mit ihrem Schlüsselbund und dem Türschloss beschäftigt war. Normalerweise hätte sie die Tür schon längst aufgesperrt haben müssen. Aber allem Anschein nach gab es Schwierigkeiten. Ich hörte das Klirren der Schlüssel und dann einen kaum hörbaren, gezischten Laut, der sich für mich so anhörte, als hätte sie soeben Fuck gesagt.

      »Probleme?«

      »Nein, nein! Ich hab’s gleich.«

      Vielleicht hatte der Bewaffnete, als er in Alessias Wohnung eingedrungen war und dazu offensichtlich das Schloss geknackt hatte, es dabei irgendwie beschädigt, sodass es sich nun nicht mehr problemlos öffnen ließ. Oder er hatte, bevor er verschwunden war, einen Gegenstand in den Schließzylinder gesteckt, um seinen Frust über den fehlgeschlagenen Mord loszuwerden und uns zu ärgern. Ich wusste zwar nicht, wieso er so etwas hätte tun sollen, aber hey, dieser Typ tötete andere Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, und war schon aus diesem Grund nicht ganz richtig in der Birne.

      Doch so irre, dass er aus reiner Bosheit das Türschloss blockiert hätte, war er dann wohl doch nicht, denn ein klickendes Geräusch verriet mir, dass Alessia es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen.

      Sie stieß die Wohnungstür weit auf, sodass sie beinahe gegen die Wand prallte, trat jedoch nicht ein.

      »Lassen Sie mich vorgehen«, sagte ich, drängte mich an ihr vorbei zur Tür und machte den ersten Schritt über die Schwelle. Ich hörte es erneut klirren, als Alessia hinter mir die Schlüssel zurück ins Etui schob, bevor sie es wieder einsteckte. Dann war es mit Ausnahme meines rascher schlagenden Herzens und des pochenden Pulsschlags in meiner Schläfe wieder still, sodass ich mich darauf konzentrieren konnte, ob ich aus der Wohnung verdächtige Geräusche hörte. Doch alles, was ich vernahm, war ein regelmäßiges Ticken, das vermutlich von einer großen Wanduhr in der Küche oder im Wohnzimmer stammte. Ansonsten war es jedoch völlig still.

      Ich machte zwei weitere Schritte in den Flur, bevor ich erneut stehen blieb, mich umsah und lauschte. Doch ich spürte instinktiv, dass die Wohnung verlassen war. Das hatte allerdings nichts mit meiner Gabe zu tun, sondern war nur ein rein intuitives Gefühl, das viele Menschen beim Betreten einer Wohnung oder eines Hauses haben. Man spürt einfach, ob jemand da ist oder nicht, weil sich eine menschenleere Wohnung vollkommen anders anfühlt.

      Ich wandte mich um und sah Alessia an, die noch immer im Treppenhaus stand und mich mit gerunzelter Stirn aufmerksam beobachtete. Ich nickte. »Ich denke, es ist niemand mehr da.«

      Ihr Stirnrunzeln verschwand und machte einem zaghaften Lächeln Platz. Obwohl auch ihr Stirnrunzeln zauberhaft war, hatte man das Gefühl, die Sonne ginge auf, sobald sie lächelte, was sie in der Zeit, seit wir zusammen waren, allerdings nur selten getan hatte. Angesichts der dramatischen Umstände war das natürlich nachvollziehbar.

      »Gut.« Sie trat ein, betätigte den Lichtschalter, da es im Flur ein bisschen düster war, und schloss die Wohnungstür. »Wo haben Sie Ihre Arbeitsmappe denn hingelegt?«

      Ich erinnerte mich wieder an den eigentlichen Grund, weswegen ich überhaupt mit ihr hierher zurückgekommen war, wandte mich um und sah zu der Stelle unterhalb der afrikanischen Masken, wo ich die Mappe mit dem Storyboard abgelegt hatte, um nach der Elefantenmaske zu greifen. »Sie ist weg!«

      »Wirklich?« Alessia kam an meine Seite und folgte meinem Blick. »Wo lag sie denn zuletzt?«

      »Genau dort drüben.« Ich hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle. »Sie lag direkt unter den Masken auf dem Teppich. Verdammter Mist!« Ich hob beide Hände und bedeckte die untere Hälfte meines Gesichts damit, während ich überlegte. »Der Killer hat sie! Er muss sie gefunden und mitgenommen haben.«

      »Das wissen wir nicht mit Sicherheit, Rex«, widersprach Alessia. »Vielleicht hat er die Mappe auch nur aufgehoben, um nachzusehen, was drin ist. Und als er sah, dass sie nur Zeichnungen enthält, legte er sie irgendwo anders hin. Kommen Sie! Lassen Sie uns danach suchen.«

      Ich nahm die Hände vom Gesicht und nickte. »Sie haben recht. Wir müssen die Wohnung durchsuchen! Außerdem können wir uns auf diese Weise gleichzeitig davon überzeugen, dass dieser kaputte Typ wirklich nicht mehr hier ist.«

      »Sie suchen im Wohnzimmer, im Bad und in der Toilette«, sagte Alessia und deutete auf eine geschlossene Tür links von mir, hinter der sich vermutlich das Wohnzimmer befand, und dann den Gang hinunter. Wo das Bad und die Toilette waren, wusste ich ja schon von meinem ersten Besuch an diesem Ort. »Ich übernehme die Küche, das Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer. Da es meine Wohnung ist, fällt es mir vermutlich eher auf, wenn irgendwo etwas herumliegt, was vorher nicht da war.«

      Wir setzten uns gleichzeitig in Bewegung. Während sie die erste Tür auf der rechten Seite des Flurs öffnete und in die Küche ging, machte ich die Tür zum Wohnzimmer auf und trat ein. Ich sah zuerst hinter der Tür nach, ob sich dort jemand versteckt hielt. Natürlich stand dort keiner. Aber obwohl mir mein Gefühl sagte, dass außer Alessia und mir niemand da war, ging ich dennoch auf Nummer sicher. Allerdings konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass der Killer sich hinter Türen versteckte. Schließlich hatte er eine Waffe mit Schalldämpfer, konnte auch aus der Ferne nahezu lautlos töten und musste daher niemandem auflauern. Ich war mir sicher, dass wir längst tot wären, wenn er sich noch immer in der Wohnung aufgehalten hätte.

      Ich sah mich im Wohnzimmer um, das wie unzählige andere Wohnzimmer auch eingerichtet war, sodass sich eine nähere Beschreibung erübrigt, konnte jedoch meine Arbeitsmappe nirgendwo entdecken. Also verließ ich den Raum schon bald wieder, ließ hinter mir die Tür offen stehen und ging durch den Flur in Richtung Bad. Im Vorbeigehen kontrollierte ich die Kommode, doch auch auf ihr lag meine Mappe nicht.

      Allmählich verlor ich allerdings die letzte Hoffnung, dass sie noch hier sein könnte, denn ich bezweifelte, dass ich sie im Bad oder in der Toilette finden würde. Warum hätte sie der Kerl mit dorthin nehmen sollen? Außer natürlich, er hatte sich ihren Inhalt in aller Ruhe angesehen, während er auf dem Klo gesessen hatte. Aber das konnte ich mir bei einem Profi nicht vorstellen. Die Gefahr, dabei Spuren zu hinterlassen, und das sogar in zweifacher Hinsicht, war einfach zu groß. Und falls man auch noch seine Waffe irgendwo liegen ließ, lief man ernsthaft Gefahr, wie der von John Travolta gespielte Vincent Vega in Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction mit der eigenen Waffe nach dem Scheißen erschossen zu werden.

      Während ich durch den Flur marschierte, sah ich mir die drei Einschusslöcher an und erschauderte bei dem Gedanken, wie knapp mich die Projektile möglicherweise verfehlt hatten. Aber obwohl zum ersten Mal in meinem Leben mit scharfer Munition auf mich geschossen worden war, stand ich deswegen nicht unter Schock oder litt an einem Trauma. Vielleicht kam das ja noch, sobald sich die Erkenntnis in meinem Bewusstsein verwurzelt und mein Verstand damit begonnen hatte, sie zu verarbeiten. Momentan ging es mir allerdings noch relativ gut, und meine größte Sorge galt meiner Mappe.


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