Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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und sah mich um. Es waren allerdings nicht viele Stellen vorhanden, an denen meine Mappe liegen konnte. Es gab keine Dusche, sondern nur eine Badewanne mit Duschvorhang, der vorgezogen war, sodass ich nicht in die Wanne sehen konnte. Ich ging als Erstes zum Waschbecken und begutachtete mein Ebenbild im Spiegel. Ein passabel aussehender 35-Jähriger mit kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haaren, Dreitagebart und braunen Augen sah mich an. Ich strich mein Haar glatt, obwohl es bei der Auseinandersetzung mit dem Killer und der anschließenden Flucht kaum in Unordnung geraten war. Dann hob ich den Kopf und begutachtete meinen Hals, um den Carlo seine kräftigen Hände gelegt hatte, um mich zu erwürgen. Die Haut war gerötet, ansonsten hatte der Mordversuch jedoch keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Es tat auch nicht mehr weh, nicht einmal beim Schlucken.

      Zufrieden senkte ich den Blick, kontrollierte die Ablage unter dem Spiegel und erstarrte, während mir gleichzeitig der Atem stockte, als ich sah, was dort lag.

      9

      Das darf doch nicht wahr sein!

      Ohne bewusst darüber nachzudenken, nahm ich die Pistole von der Ablage, schwenkte die Hand hin und her und beäugte die Schusswaffe argwöhnisch von allen Seiten. Sie war groß, unhandlich und ziemlich schwer, was vermutlich auch an dem Schalldämpfer lag, der am Lauf befestigt worden war. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um die Waffe des Mannes handelte, der auf uns geschossen hatte. Aber wieso lag sie hier so herrenlos im Badezimmer herum? Hatte Carlo sie vergessen, als er vor dem Gehen noch rasch aufs Klo gegangen war und sich danach die Hände gewaschen hatte? Nicht sehr wahrscheinlich. Doch wenn seine Waffe hier lag, wo war dann ihr Besitzer? Gewiss ganz in der Nähe …

      Als mir schon einen Sekundenbruchteil später die Antwort auf die letzte Frage einfiel, hob ich langsam den Blick und sah erneut in den Spiegel, durch den ich über meiner rechten Schulter den vorgezogenen Duschvorhang hinter mir sehen konnte. Ich schluckte, während das Herz in meiner Brust einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellte, der vermutlich für die Ewigkeit war, denn jede weitere Steigerung musste unweigerlich zum Herzinfarkt führen.

      Ich fixierte den Duschvorhang, der aus silbergrauem Polyester bestand und völlig undurchsichtig war. Ich erschrak und zuckte zusammen, als er sich bewegte. Doch dann erkannte ich, dass es gar keine Bewegung des Vorhangs gewesen war, sondern nur ein Lichtreflex, der über seine Oberfläche gehuscht war. Wie aus weiter Ferne konnte ich Geräusche aus einem anderen Teil der Wohnung hören, die vermutlich von Alessia stammten. Doch meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt in diesem Moment dem Duschvorhang und dem, was sich möglicherweise dahinter befand, sodass ich alles andere ausblendete und nur am Rande wahrnahm.

      Ich schluckte laut. Meine Kehle war so ausgedörrt, als wäre ich durch eine Wüste an diesen Ort gelangt. Gern hätte ich einen Schluck Wasser zu mir genommen. Dazu hätte ich nur den Wasserhahn vor mir aufdrehen und mich nach unten beugen müssen. Doch erst musste ich mir Gewissheit verschaffen, was hinter dem Vorhang war. Außerdem wollte ich ihn unter keinen Umständen auch nur eine einzige Sekunde aus den Augen lassen.

      Da der Vorhang sich nicht von allein öffnete und keine Bewegung dahinter zu erahnen war, was mir vermutlich beides einen Riesenschreck eingejagt und meinem galoppierendem Herzen den Rest gegeben hätte, musste ich wohl oder übel selbst Hand anlegen. Ich schloss für zwei Sekunden die Augen und atmete einmal tief ein, bevor ich sie sofort wieder aufriss aus Angst, etwas könnte genau in diesem Moment den Vorhang zur Seite reißen und mich von hinten anspringen. Anschließend wandte ich mich rasch um und ging, ehe ich es mir anders überlegen und schreiend aus dem Bad rennen konnte, entschlossen zur Badewanne.

      Erst als ich mit der linken Hand nach dem Vorhang griff, entsann ich mich wieder der Pistole in meiner Hand. Ich hob sie und richtete den mattschwarzen Zylinder des Schalldämpfers auf den Polyester vor mir. Dann riss ich den Vorhang mit einem einzigen herzhaften Ruck zur Seite.

      Ich schrie vor Schreck laut auf, als ich mich der schwarz gekleideten Gestalt des Killers gegenübersah, der mich mit überraschtem Gesichtsausdruck anglotzte.

      10

      Beinahe hätte ich reflexartig den Abzug der Pistole gedrückt und auf ihn geschossen, ehe mir bewusst wurde, dass das gar nicht mehr nötig war.

      Er war bereits tot!

      Irgendjemand, vermutlich sein Mörder, hatte ihm den Schlauch der Duschbrause um den Hals geschlungen, sodass der Mann nun an der Brausestange hing und es so aussah, als wäre er noch immer am Leben und stünde halbwegs aufrecht in der Badewanne. Er war allerdings nicht mit dem Schlauch erdrosselt worden, sondern an einer Kugel gestorben, die so exakt zwischen seinen dichten, schwarzen Augenbrauen platziert worden war, als hätte der Mörder dafür Lineal und Zirkel benutzt. Die Augen des Toten, die mich bei unserer ersten Begegnung noch so zornig und bösartig angefunkelt hatten, wirkten nun so leblos wie Glasmurmeln, sahen mich unter den halb geschlossenen Lidern aber dennoch an, als wäre er vom Tod überrascht worden und machte mich für seinen momentanen Zustand verantwortlich.

      Mein Blick fiel erneut auf das schwarz geränderte Loch in seiner Stirn, aus dem nur ein einzelner Tropfen Blut gequollen und an seinem Nasenrücken nach unten gelaufen war, wo er nun an seiner knollenartigen Nase hing wie zu Eis erstarrter, blutiger Rotz. Von der tödlichen Wunde wanderte mein Blick wie unter Zwang zu der Pistole in meiner Hand. Ich realisierte, dass ich möglicherweise die Tatwaffe in der Hand hielt, aus der der tödliche Schuss abgefeuert worden war. Entsetzt ließ ich sie fallen und beobachtete, wie sie zu Boden fiel. Zu spät fiel mir ein, dass sie beim Aufprall losgehen und ich mir versehentlich einen Zeh oder einen Hoden wegschießen könnte. Die Welt war schließlich gemein und voller verrückter Unglücksfälle. Und bei alldem, was mir heute schon widerfahren war, hätte es mich auch gar nicht verwundert. Doch die Waffe entlud sich zum Glück nicht, sondern landete nur mit einem in dem gekachelten Raum extrem lauten Scheppern auf den Bodenfliesen.

      Alessia kam, entweder durch meinen Schrei oder den Lärms alarmiert, ins Bad und fragte mich vermutlich, was passiert sei. Ich hörte sie jedoch nicht und wurde mir ihrer Anwesenheit erst in dem Moment bewusst, als sie mich am Oberarm packte und heftig schüttelte. Ich zuckte so erschrocken zurück, als hätte die Leiche ihren Arm ausgestreckt und nach mir gegriffen, entzog mich ihrem Griff und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Erst dann erkannte ich, dass es nur Alessia war, entspannte mich und ließ mit einem zischenden Laut, in den sich ein leises Seufzen schlich, den Atem entweichen, den ich seit Entdeckung des Leichnams angehalten hatte.

      Alessia entschuldigte sich ausnahmsweise nicht dafür, dass sie mich angefasst hatte. Sie sagte überhaupt nichts, während ihr Blick von mir zu der Waffe am Boden und dann zu der reglosen Gestalt wanderte, die am Schlauch der Brause hing.

      Der Anblick schien sie nicht so sehr zu schockieren wie mich, was vermutlich vor allem daran lag, dass meine Reaktion sie darauf vorbereitet hatte, dass ich etwas Schreckliches entdeckt hatte. Außerdem hatte mich wahrscheinlich auch der Psycho-Effekt zusätzlich geschockt, weil ich den Duschvorhang zur Seite gezogen und dahinter einen lebenden Menschen und keine Leiche erwartet hatte.

      »Scheiße! Was ist denn hier passiert?«, sagte Alessia und sah dann wieder zu mir. »Hast du ihn erschossen? Oder hat er das selbst getan?« Sie war vom sperrigen Sie zum einfacheren Du übergegangen, was mir in dieser Situation auch völlig angemessen erschien. Uns weiterhin zu siezen, während wir vor dem Leichnam des Mannes standen, der uns vor Kurzem noch das Lebenslicht hatte ausblasen wollen, wäre geradezu lächerlich gewesen.

      Ich reagierte im ersten Moment wie ein kleiner Junge, der bei etwas Verbotenem erwischt worden war, schüttelte heftig den Kopf und sagte: »Ich war das nicht!«

      Sie sah mich misstrauisch an, als glaubte sie mir nicht so recht, doch dann nickte sie. »Natürlich nicht.« Vermutlich war sie zu der korrekten Ansicht gelangt, dass ich nicht der Typ von Mann war, der andere Leute mit gezielten Kopfschüssen tötete. »Dann muss er Selbstmord verübt haben. Aber wieso?«

      Ich schüttelte den Kopf und kam wieder einen Schritt näher. »Das war kein Selbstmord!«, sagte ich und deutete auf die Pistole am Boden. »Außer, er hat sich vor dem Spiegel erschossen,


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