Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


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nahm unwillkürlich die Hände vom Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Hände in meine Achselhöhlen, wie ich es seit Kurzem oft tat, wenn ich sie sowohl vor den Blicken anderer als auch vor zufälligen Berührungen schützen wollte. Ich wusste nicht, ob sie mir meine Reaktion auf ihre Worte ansah, denn mich hatte erschreckt, was sie gesagt hatte. Nicht die Fragen nach den Handschuhen und meinem merkwürdigen Verhalten in der U-Bahnstation. Damit hatte ich gerechnet. Nein, es ging um ihren letzten Satz und die darin enthaltene Feststellung, da diese erschreckend nah an der Wahrheit gewesen war. Denn ich hatte dem Tod buchstäblich ins Auge gesehen. Allerdings nicht meinem Tod oder dem Tod als abstraktem Schreckgespenst, sondern Alessias Tod. Aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen, ohne in ihren Augen wie ein komplett durchgeknallter Irrer zu wirken. Also musste ich ihr eine weitere Lüge auftischen, die ich mir schon zurechtgelegt hatte, nachdem ich meine Gabe erkannt hatte, um anderen Menschen zu erklären, warum ich ihnen zur Begrüßung nicht die Hand geben konnte.

      Ich seufzte schwer, bevor ich antwortete: »Ich leide unter Berührungsangst. Das ist die Angst vor Körperkontakt mit anderen Menschen. Der medizinische Fachausdruck dafür lautet Aphenphosmophobie.« Meist reichte diese knappe und glaubwürdig klingende Ausführung in Verbindung mit dem zungenbrecherischen Fremdwort, um andere zu überzeugen und mein sonderliches Verhalten zu erklären.

      Alessia runzelte nachdenklich die Stirn, als hätte sie insgeheim eine andere Antwort erwartet. Dann nickte sie und sagte: »Verstehe.«

      »Wären damit alle Fragen geklärt?«

      Sie nickte erneut. »Für den Moment schon. Ich geh dann nur noch rasch, um mich frischzumachen. Danach können wir aber sofort gehen.«

      Sie stand auf und machte sich auf den Weg zu den Toiletten. Ich sah ihr nachdenklich hinterher, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwand. Dann ließ ich den Blick durch das Starbucks schweifen, ob ich ein bekanntes Gesicht entdeckte. Zum Glück war das nicht der Fall.

      8

      Ich ging die Stufen, die wir über eine Stunde zuvor heruntergerannt waren, als wäre uns der leibhaftige Teufel auf den Fersen, um unsere Seele zu rauben, nun langsam nach oben. Ich war völlig angespannt und bereit, mich jederzeit herumzuwerfen, um wieder nach unten zu rennen. Mein Herz schlug schneller, und ich schwitzte leicht, während sich meine Knie etwas schwammig anfühlten, als bestünden sie nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus Weichgummi, und sogar leicht zitterten.

      Alessia ging direkt hinter mir. Das mit dem Herumwerfen und Hinunterrennen würde also gar nicht so einfach werden, falls sie nicht ebenso schnell wie ich reagierte und mir unter Umständen im Weg stand. In dem Fall könnte uns Carlo, der mutmaßliche gedungene Killer, sofern er immer noch hier war und uns auflauerte, vielleicht sogar mit einem einzigen gut gezielten Schuss erledigen. Zwei auf einen Streich! Dennoch war ich dankbar, dass Alessia in meiner Nähe war. So konnte ich nicht doch noch im letzten Moment einen Rückzieher machen, ohne vor ihr als Feigling dazustehen. Sie stärkte mir den Rücken und hätte mir vermutlich sogar beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt, wenn ich ihr nicht von meiner angeblichen Berührungsangst erzählt hätte.

      Ich atmete tief ein, bevor ich den letzten Treppenabsatz vor dem Stockwerk mit ihrer Wohnung betrat, drehte mich zur Seite und warf einen vorsichtigen Blick nach oben. Ich entließ die angehaltene Luft, als ich niemanden sah, der auf uns wartete und mit einer schallgedämpften Pistole auf mich zielte.

      Im Haus war es, obwohl es hier zehn Mietwohnungen gab, erstaunlich still. Als ich Alessia nach dem Betreten des Hauses flüsternd nach ihren Nachbarn gefragt hatte, hatte sie geantwortet, dass sie die meisten gar nicht kennen würde, weil sie noch gar nicht lange hier wohnte. Ihrer Meinung nach waren allerdings ohnehin alle berufstätig und hatten entweder gar keine oder erwachsene Kinder, die schon aus dem Haus waren, was die unnatürliche Ruhe im Haus um diese Uhrzeit erklärte. Und deshalb war auch niemand auf die Verfolgungsjagd im Treppenhaus und die Löcher in Alessias Wohnungstür aufmerksam geworden.

      Ich wandte den Kopf und nickte Alessia zu, um ihr zu signalisieren, dass das Treppenhaus vor ihrer Wohnung frei war. Dann ging ich weiter und nahm die letzten Stufen in Angriff.

      Ich war noch immer angespannt und schreckhaft, rechnete aber nicht wirklich damit, dass der Mann noch hier war. Schließlich musste er damit rechnen, dass wir in Begleitung der Polizei zurückkehrten. Allerdings musste man meiner Meinung nach immer alle Eventualitäten in seine Überlegungen miteinbeziehen, wenn man nicht unangenehm überrascht werden wollte. Schließlich war ich nur ein Comiczeichner und hatte keine Ahnung, was im Gehirn eines Profikillers vorging, sofern der knollennasige Typ tatsächlich ein solcher und nicht nur ein übermotivierter Inkassomitarbeiter war, der zu viele Quentin-Tarantino-Filme gesehen hatte und deshalb ab und zu übers Ziel hinausschoss.

      Ich musste schlucken, obwohl mein Hals völlig ausgetrocknet war, und hatte das Gefühl, das Geräusch könnte im ganzen Haus zu hören sein, während ich meinen Fuß auf die fünftletzte Stufe setzte. Durch das Treppengeländer konnte ich schon Alessias Wohnungstür sehen. Sie schien geschlossen zu sein. Ich konnte allerdings ein paar Löcher im Holz erkennen, an deren Rändern das Holz gesplittert und Späne nach außen gebogen worden waren. Noch war ich allerdings nicht nah genug, um alle Durchschüsse sehen und zählen zu können.

      Ich blieb stehen und drehte Kopf und Oberkörper nach rechts, um einen Blick nach oben zu werfen, wo die Treppe in die höheren Etagen führte.

      Alessia hatte nicht damit gerechnet, dass ich so abrupt anhielt, und prallte gegen mich, sodass ich für einen Moment ihre Brüste an meinem Rücken spüren konnte. Ich erschauderte wohlig.

      »Tschuldigung«, flüsterte sie ganz nah an meinem rechten Ohr. Ich konnte ihren warmen Atem fühlen, ehe sie wieder auf Distanz ging.

      Ich warf ihr aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu und nickte. Einerseits, um ihre Entschuldigung anzunehmen, andererseits aber auch als Zeichen, dass uns niemand auf den höher gelegenen Stufen auflauerte. Dann wandte ich den Kopf wieder nach vorn und stieg die letzten Stufen hoch, bis ich auf dem Absatz vor den beiden Wohnungstüren stand.

      Als ich mich Alessias Tür näherte, sah ich noch einmal die Stufen hoch, konnte aber noch immer niemanden entdecken. Beruhigt atmete ich auf. Wenn der Killer uns dort aufgelauert hätte, wäre er sicherlich schon in Erscheinung getreten, um uns zu erschießen. Wieso sollte er warten, bis wir wieder in der Wohnung waren, wenn er die Sache auch kurz und schmerzlos im Treppenhaus erledigen konnte. Schließlich war niemand im Haus, der ihn dabei beobachten konnte.

      Die Tür war tatsächlich zu. Der Mann musste sie ins Schloss gezogen haben, als er gegangen war. Vielleicht war sie auch hinter ihm zugefallen, als er uns ins Treppenhaus nachgelaufen war, und er war gar nicht mehr in die leere Wohnung zurückgekehrt.

      Ich zählte insgesamt sechs Löcher im Türblatt, die von den Kugeln stammten, die der Mann bei unserer Flucht auf mich abgefeuert hatte. Ich schluckte erneut, als mir bewusst wurde, wie knapp ich den Projektilen entgangen war.

      »Alles in Ordnung?«, fragte Alessia, die neben mich getreten war, nachdem ich zwei Schritte vor der Tür angehalten hatte, ohne mir dessen bewusst geworden zu sein. Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm und sah mich besorgt an.

      Ich sah auf ihre Hand. Natürlich bestand keine Gefahr, dass meine unheimliche Fähigkeit ausgelöst wurde, da sie nur den Ärmel meiner Lederjacke berührte und kein unmittelbarer körperlicher Kontakt bestand. Ich fragte mich in diesem Augenblick dennoch, ob ich in dem Fall immer noch ihr Totengesicht sehen würde, nachdem ich verhindert hatte, dass der Killer sie tötete. Ich wagte es allerdings nicht, sie zu berühren, da man mir meine Enttäuschung und mein Entsetzen gewiss vom Gesicht ablesen konnte, falls ich noch immer das Antlitz des Todes in ihren Zügen sehen würde, und das wollte ich momentan nicht riskieren. Außerdem würde es nicht zu meiner Lügengeschichte über die Berührungsphobie passen, wenn ich von mir aus Körperkontakt herstellen würde.

      Sie sah meinen Blick und zog ihre Hand sofort zurück. »Entschuldigen Sie, Rex. Ich hatte vergessen, dass Sie …«

      »Ist schon okay, Alessia. Solange


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