Totengesicht. Eberhard Weidner

Totengesicht - Eberhard Weidner


Скачать книгу
dass ich sie nicht laut stellen musste.

      »Im Grunde ist ja gar nichts Schlimmes passiert, oder?«

      Ich hob überrascht die Augenbrauen. Gar nichts Schlimmes passiert? Aber hallo!

      Doch wenn man einmal davon absah, dass ein fremder Mann mit der übelsten Gaunervisage, die ich seit Langem außerhalb eines Comics gesehen hatte, und einer schallgedämpften Schusswaffe in der Hand in ihre Wohnung eingedrungen war, um sie zu erschießen, und dann mehrere Schüsse auf uns abgefeuert hatte, war vermutlich tatsächlich nicht viel passiert, denn im Endeffekt waren nur drei Löcher in ihrer Flurwand und eine unbekannte Anzahl von Durchschüssen in ihrer Wohnungstür übrig geblieben. Der tatsächliche, materielle Schaden war also vergleichsweise gering. Es war eben alles nur eine Frage der richtigen Perspektive. Im Grunde hatte sie also gar nicht so unrecht. Dennoch musste meiner Meinung nach noch mehr hinter ihrer Weigerung stecken, die Polizei einzuschalten.

      Ich fragte mich zum ersten Mal, warum der Mann sie hatte töten wollen, denn ohne Grund dringt niemand bewaffnet in fremde Wohnungen ein, um die Bewohner möglichst geräuschlos um die Ecke zu bringen. Und nach einem Raub hatte es für mich nicht ausgesehen, denn als Alessia im Bad gewesen war, hätte der Mann die halbe Wohnung ausräumen können, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hätte und ohne dass er sie hätte töten müssen. Doch so, wie sich der Mann verhalten hatte, erschien es mir wahrscheinlicher, dass sein vordringlichstes Ziel Alessias Ermordung gewesen war. Allenfalls hätte er hinterher die Wohnung verwüstet, um es für die Polizei wie einen Raubmord aussehen zu lassen. Aber wenn sie tatsächlich ermordet werden sollte, wer war der Mann dann? Jemand, der sie tot sehen und den Job selbst erledigen wollte, oder ein gedungener Mörder, hinter dem ein Auftraggeber steckte, der sich die Hände nicht schmutzig machen wollte. Dass Alessia Carlo nicht zu kennen schien, sprach eher für die zweite Alternative. Und auch die Benutzung eines Schalldämpfers, die Reaktionsschnelligkeit des Mannes und sein lässiges Verhalten vor der Konfrontation mit seinem Opfer ließen auf einen Profi schließen.

      »Ich habe bis vor Kurzem in einer Nachtbar gearbeitet«, sagte Alessia und unterbrach meine Überlegungen über die Hintergründe des Mordversuchs. »Dort bekam ich Ärger mit der Polizei. Auf eine Wiederholung kann ich gerne verzichten.«

      »Weswegen hatten Sie mit der Polizei Schwierigkeiten?«

      Sie seufzte. »Es war nichts Ernsthaftes und außerdem völlig aus der Luft gegriffen. Der Vorwurf lautete Vortäuschung einer Straftat. Das Verfahren wurde natürlich eingestellt, weil letztendlich auch der zuständige Staatsanwalt einsehen musste, dass an der Geschichte nichts dran war. Aber wenn ich jetzt erneut die Polizei informiere und behaupte, jemand sei in meine Wohnung eingedrungen und habe versucht, mich zu töten, werden sie mich bestimmt nicht ernst nehmen, sobald sie meinen Namen in ihren Polizeicomputer eingeben und auf das damalige Verfahren stoßen.«

      »Aber ich kann doch bezeugen, dass Sie die Wahrheit sagen. Außerdem gibt es die Einschusslöcher in Ihrem Flur und in der Wohnungstür.«

      »Die werden sagen, dass wir die Einschusslöcher selbst verursacht haben und dass Sie ebenfalls lügen. Und am Ende haben Sie ebenfalls ein Verfahren wegen Vortäuschung einer Straftat oder Falschaussage am Hals. Ich will aber nicht, dass Sie noch mehr in diese Geschichte hineingezogen werden, als es ohnehin schon der Fall ist. Deshalb lautet meine Entscheidung, dass wir die Polizei vorerst noch nicht einschalten. Und das ist mein letztes Wort! Versuchen Sie also besser nicht, mich umstimmen zu wollen.«

      »Na gut, wie Sie wollen. Es ist Ihre Entscheidung. Aber falls Sie noch einmal in eine derart lebensgefährliche Situation geraten, sollten Sie meiner Meinung nach keinen Moment länger als nötig zögern und sofort die Behörden einschalten. Alles andere könnte Sie nämlich leicht das Leben kosten. Sie wissen schon, dass wir vorhin nur mit unglaublich viel Glück lebend davongekommen sind, oder?«

      »Natürlich weiß ich das. Und ich verspreche Ihnen hoch und heilig, in Zukunft vorsichtiger zu sein und sofort die Polizei zu rufen, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas nicht in Ordnung oder mein Leben in Gefahr ist. Zufrieden?«

      Ich nickte. »Sie sollten die Geschichte trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen, Alessia. Das nächste Mal haben Sie vielleicht nicht mehr so viel Glück. Ich glaube nämlich nicht, dass der Kerl sein Vorhaben aufgegeben hat. Er kam vermutlich in der Absicht in Ihre Wohnung, Sie zu töten. Und da ihm das beim ersten Mal nicht gelungen ist, wird er es bestimmt erneut versuchen. Haben Sie denn gar keine Ahnung, weswegen jemand Sie tot sehen will?«

      Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe natürlich schon selbst darüber nachgedacht, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. Wie schon gesagt, war ich bis vor Kurzem in einem Nachtclub tätig. Dort kommt man auch mit dem einen oder anderen zwielichtigen Typen mit kriminellem Hintergrund in Kontakt. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, wieso einer von denen mich umbringen lassen sollte.«

      »Vielleicht hat es ja mit der Geschichte zu tun, wegen der Sie damals Ärger mit der Polizei hatten.«

      Sie dachte kurz darüber nach und nahm einen Schluck von ihrem Caffè Latte. Ich nutzte die Pause und trank ebenfalls etwas. Dann stellte sie die Tasse ab und schüttelte den Kopf. »Nein! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt.«

      »Dennoch muss es einen Grund für den Mordversuch geben. Vielleicht haben Sie im Nachtklub etwas gesehen, das Sie nicht sehen sollten.«

      »Vielleicht war es auch nur eine Verwechslung.«

      Ich schmunzelte, obwohl ich die Sache nicht im Mindesten komisch fand. »Natürlich, das ist die Erklärung. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen? Der Profikiller, den jemand engagierte, um einen kaltblütigen Mord zu begehen, hatte heute vermutlich seine Brille zu Hause vergessen und war, als er die Adresse seines Opfers aus dem Telefonbuch abschrieb, auch noch in der Zeile verrutscht und nur deshalb zufällig in Ihrer Wohnung gelandet. Vermutlich bemerkt er genau in diesem Moment seinen Irrtum und denkt sich: Verflixt, wie konnte mir so ein Fehler nach 20 Jahren als hauptberuflicher Mörder bloß passieren? Also lässt er 200 Euro auf Ihrer Flurkommode zurück, um den Schaden zu ersetzen, den er angerichtet hat, und verlässt Ihre Wohnung, um sich auf die Suche nach dem richtigen Mordopfer zu machen.«

      Alessia schmunzelte ebenfalls. »Sie haben wirklich eine blühende Fantasie, Rex. Kein Wunder, dass Sie sich Comics und Trickfilme ausdenken. Wenn Sie genauso gut zeichnen, wie Sie sich solche Geschichten ausdenken, würde ich gern mal ein paar Ihrer Arbeiten sehen.«

      »Vermutlich haben Sie das schon, ohne dass Sie es wussten. In einem Werbespot, einer Zeitungsanzeige oder einem Comic in einer Zeitschrift. Aber um zum Thema zurückzukommen. Ich glaube noch immer, dass es ein großer Fehler ist, die Polizei nicht zu informieren. Vielleicht sogar ein Fehler, der Sie letzten Endes das Leben kosten könnte. Denken Sie also lieber noch einmal darüber nach.«

      »Okay, okay. Da Sie in dieser Sache anscheinend partout keine Ruhe geben wollen, verspreche ich Ihnen, dass ich zumindest noch einmal darüber nachdenken werde. Aber erst, nachdem wir in die Wohnung zurückgekehrt sind und uns angesehen haben, was der Mann dort angerichtet hat. Einverstanden?«

      Ich nickte und trank meinen Kaffeebecher leer. »Dann lassen Sie uns endlich aufbrechen.«

      »Warten Sie!«

      Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen überrascht an. »Wieso?«

      »Weil ich, nachdem Sie mich gerade wie ein mittelalterlicher Inquisitor ausgefragt haben, ebenfalls ein oder zwei Fragen an Sie habe. Außerdem muss ich mich noch kurz frisch machen, bevor wir gehen.«

      Ich seufzte und nickte. »Okay. Fragen Sie!«

      Ich ahnte, was nun kommen würde, weil ich schon wesentlich früher damit gerechnet hatte. Mit der Frage, die immer kam, wenn ich mich mit anderen Leuten unterhielt, seit ich beschlossen hatte, in der U-Bahn Handschuhe zu tragen. Die Bestätigung meiner Ahnung bekam ich schon einen Augenblick später, als sie den Blick senkte und auf meine Hände sah, die rechts und links von meinem leeren Becher auf dem Tisch lagen.

      »Warum trugen Sie in der U-Bahn Handschuhe? Und wieso haben Sie mich in der U-Bahnstation so entsetzt


Скачать книгу