Das Rubikon-Papier. Christoph Güsken

Das Rubikon-Papier - Christoph Güsken


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mit wenigen Blicken einen Überblick über die Lage ver­schaffen zu können.

      „Tja, das nennt man wohl eine Standardsituation“, meinte Ander­sen. „Dieser Mann ...“

      „Dr. Benno von Zabern“, sufflierte Grunwald.

      Andersen trat zum großen Fenster, wo ein Kollege von der Spuren­si­cherung ein kreisrundes Loch in der Scheibe auf Spuren untersuchte.

      „Von Zabern kehrte vom Joggen nach Hause zurück und überrasch­te den oder die Einbrecher auf frischer Tat. Vielleicht bedrängte er ihn, das würde erklären, dass er ihm so nahe kam. Und dass der Täter in Pa­nik geriet und schoss.“

      „Wer hat ihn gefunden?“, erkundigte sich Grunwald.

      „Nelli Holm, seine Lebensgefährtin“, antwortete Lingen. „Sie ist oben im Schlafzimmer. Ziemlich fertig.“

      „Bringen Sie mich zu ihr.“

      Während Hauptkommissar Grunwald dem Polizisten zur Treppe folgte, nahm Andersen den Tatort weiter in Augenschein. Einbruch, dachte er, ist die nächstliegende Möglichkeit. Zweite Möglichkeit: Je­mand möchte, dass wir es für einen Einbruch halten.

      Um herauszufinden, mit welcher der beiden Möglichkeiten man es zu tun hatte, war es hilfreich, die Unordnung im Raum einer genauen Un­tersuchung zu unterziehen. Es gab nämlich kleine, verräterische De­tails, anhand derer man eine wirkliche von einer nur vorgetäuschten Un­ordnung unterscheiden konnte. Die vorgetäuschte war meist umfas­sender, aber wahlloser. Der Einbrecher hätte beispielsweise reihenwei­se Bücher aus den Regalen ziehen können, um den Eindruck von hek­tischem Chaos zu verstärken. Doch selbst die unteren Böden waren un­angetastet, Bücher standen säuberlich Rücken an Rücken.

      Der Täter hatte sich hauptsächlich auf den Schreibtisch konzen­triert. Auf der Platte lag alles wild durcheinander, die Schreibtischlam­pe war umgestürzt und auf einen Aschenbecher gefallen, der seinen Inhalt überall verstreut hatte.

      Wie hatte der Schreibtisch wohl ausgesehen, bevor man ihn in ein Cha­os verwandelt hatte? Vorsichtig räumte Andersen den Papierwust mit dem Ärmel zur Seite und legte einen Schreibblock frei. Meine Kleine, stand dort, mit Kugelschreiber geschrieben, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Vielleicht aber ist es auch gar nicht mehr nö­tig. Trotzdem werde ich versuchen, dir zu erklären -

      Ein angefangener Brief.

      Lingen war wieder zurück und trat neben den Hauptkommissar. „Es sind noch mehr Zimmer im Haus durchwühlt worden“, sagte er. „Im Schlafzimmer hat der Täter eine Vitrine aufgebrochen.“

      „Fehlt etwas?“

      „Es sieht so aus. Die Vitrine scheint Schmuck enthalten zu haben, je­denfalls steht eine leere Schatulle darin. Wir warten aber noch dar­auf, dass Frau Holm wieder ansprechbar ist und nähere Angaben ma­chen kann.“

      „Ein Einbruch macht Sinn.“ Andersen nickte und kratzte sich am Kopf. „Das Haus macht schließlich nicht den Eindruck, als könnte man hier nur wertlose Klunker abräumen.“

      Lingen deutete auf den Computer. „Wir fanden das Gerät einge­schaltet vor. Der Ermordete scheint daran gearbeitet zu haben, bevor er zum Jog­gen aufbrach.“

      Das leise singende Geräusch des Lüfters, der die Festplatte kühlte, hat­te Andersen bei den vielen Hintergrundgeräuschen bis jetzt nicht wahrgenommen. Er bewegte die Maus, worauf der Monitor zum Le­ben erwachte und ein Verzeichnis anzeigte, in dem sich nur eine Datei befand: Rubikon. „Wollen wir doch mal sehen“, sagte Andersen und wollte das Dokument anklicken. Nichts geschah. Der Bildschirm war eingefroren.

      „Sehen Sie das Verzeichnis?“, sagte Lingen. „Wechseldatenträger E. Die Datei befindet sich wahrscheinlich auf einem USB-Stick.“

      Andersen überprüfte alle PC-Eingänge. „Wo ist das Ding geblie­ben?“

      Drei CDs lagen auf dem Schreibtisch vertreut. Der Kommissar sam­melte sie auf und drückte sie Lingen in die Hand. „Würden Sie mir den Gefallen tun herauszufinden, ob sich die Datei auf einer von ihnen befindet?“

      „Da ist noch etwas“, sagte der Polizeibeamte. „Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wir fanden das Gerät unter dem Chaos auf dem Schreibtisch.“ Der junge Mann bückte sich, hob es vom Boden auf und drückte einen Knopf.

      Es piepste.

      „Rudi Kerkhoff hier, der Journalist. Sie erklärten sich freundlicher­weise bereit, mir ein Interview zu geben. Leider stecke ich im Stau und schaffe es nicht, um sechzehn Uhr bei Ihnen zu sein. Wäre Ihnen eine halbe Stunde später recht? Wenn nicht, können Sie mich über Handy erreichen. Ich gebe Ihnen meine Nummer ...“

      „Frau Holm benachrichtigte uns um siebzehn Uhr vierunddreißig“, sagte Lingen. „Als dieser Anruf kam, war Herr von Zabern vermutlich joggen.“

      Dr. Künzel näherte sich. „Ich bin soweit fertig. Alles nähere wie üblich in meinem Bericht.“

      „Sechzehn Uhr dreißig“, sagte Andersen. „Was glauben Sie, Dok­tor, käme das als Tatzeit in Frage?“

      Die Rechtsmedizinerin nickte. „Wie gesagt, bis jetzt gibt’s nur Ver­mutungen. Aber sechzehn Uhr dreißig ist eine ziemlich gute Vermu­tung.“ Sie winkte mit einer Zigarette, die sie noch nicht angezündet hatte. „Schönes Wochenende, die Herren. Und ziehen Sie sich warm an. Es soll recht frostig werden.“

      Andersen nickte zufrieden. Er ließ die Nachricht noch einmal lau­fen und notierte die Nummer auf dem Zettel. „Kerkhoff, der Journa­list“, sagte er. „Es könnte lohnenswert sein, diesen Herrn kennenzuler­nen.“

      Frank Grunwald kam die Treppe herunter und betrat das Wohnzim­mer hinter den Kollegen, die gerade anrückten, um die Leiche abzu­trans­por­tieren.

      „Wie geht’s Frau Holm?“, erkundigte sich Andersen.

      „Schon besser“, meinte Grunwald. „Sie hat sich schon umgesehen, ob etwas gestohlen wurde.“

      „Und?“

      „Die Vitrine im Schlafzimmer enthielt eine Schatulle mit einem Col­lier und Ohrringen.“

      „Das ist doch schon was.“

      „Frau Holm sagt allerdings, dass die Stücke nicht sehr viel Geld brin­gen werden. Es sind Erinnerungstücke, die vorwiegend einen ide­ellen Wert haben.“

      „Trotzdem“, sagte Andersen. „Damit sieht die Sache schon rund aus.“

      „Sie sind wertvoll für mich, weil Benno sie mir schenkte, als wir uns kennenlernten“, erklärte die Frau, die hinter Hauptkommissar Grun­wald das Zimmer betrat.

      Nelli Holm war kräftig gebaut, hatte ein rundes Gesicht und stroh­far­benes lockiges Haar. Sie trug Jeans und einen Wollpulli. Andersen war einen Moment irritiert, aber nicht, weil von Zabern mit einer Frau zu­sammengelebt hatte, die seine Tochter sein konnte. Sein erster Ein­druck war vielmehr, dass diese Frau nicht in ein nobles Haus wie die­ses gehörte, mit seinen Marmorböden und den Legionen von Büchern. Frau Holm schien ihm eher der Typ zu sein, der sich auf einem Bau­ernhof wohlfühlte, naturverbunden und ohne modische Mätzchen.

      Er trat auf sie zu. „Hauptkommissar Andersen“, stellte er sich vor. „Bei den meisten Einbrüchen nehmen die Diebe alles mit, das irgend­wie nach Schmuck aussieht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie eine Liste der gestohlenen Stücke erstellen und uns Fotos an die Hand geben könnten, auf denen sie zu sehen sind.“

      „Benno wurde ermordet“, sagte die junge Frau mit monotoner Stim­me. „Aber nicht von Einbrechern, die nur auf Schmuck aus wa­ren.“­

      „Vieles deutet darauf hin, dass Ihr Mann gerade im falschen Mo­ment nach Hause zurückgekehrt ist“, sagte Grunwald verständnisvoll. „Dass er wegen eines dummen Zufalls sein Leben verlor, fällt schwer zu ak­zeptieren.“

      „Nein“, beharrte Nelli. „So war es nicht.“


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