ZEHN TAGE IN DER HÖLLE. Eberhard Weidner
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INHALTSVERZEICHNIS
PROLOG
Obwohl ein halbes Dutzend Fliegen seinen Körper umschwirrt, rührt sich der Mann auf dem Bett nicht. Seine Augen stehen weit offen und starren blicklos an die Decke. Dennoch zuckt kein einziger Muskel in seinem Gesicht, noch bewegt sich eine Hand, um die Plagegeister zu vertreiben. Bei genauerer Betrachtung ist sogar zu erkennen, dass nicht einmal Atemzüge den Brustkorb heben und senken.
Der Mann ist unzweifelhaft tot, wofür auch die leichenhafte Blässe seiner Haut spricht. Er kann allerdings erst vor wenigen Stunden gestorben sein.
Der Leichnam hat mittellanges, hellbraunes Haar, das mehrere Tage nicht gewaschen wurde und fettig glänzt. Außerdem bedecken die Stoppeln eines Siebentagebarts die untere Hälfte seines hageren, ausgemergelten Gesichts, dessen Züge im Tod entspannt sind, auch wenn sein Sterben allem Anschein nach nicht leicht und schmerzhaft war. Der Rest des Körpers ist ebenfalls ausgezehrt und abgemagert, so als habe er mehrere Tage lang nicht mehr genug zu essen bekommen. Vermutlich ist er Anfang bis Mitte dreißig, sieht jedoch aufgrund seiner mitgenommenen äußeren Erscheinung älter aus, obwohl der Tod bereits einige Falten geglättet hat. Alles, was er an seinem dürren Leib trägt, sind ein dunkelblaues T-Shirt und eine Cargo-Bermuda-Shorts, deren ursprünglich beige Farbe größtenteils nur noch zu erahnen ist.
Das linke Bein ist mit Ausnahme des Fußes zu enormer Größe angeschwollen. Am linken Unterschenkel befindet sich ein schmutzig grauer Verband, der die Blutung der darunter verborgenen Wunde nur unzureichend aufhalten konnte. Doch es ist nicht nur Blut, das den Verbandsmull durchtränkt hat, sondern auch Eiter, denn die Verletzung hat sich entzündet. Die Entzündung hat sich bis zum Tod des Mannes auf den kompletten Unterschenkel und sogar bis zum Oberschenkel ausgebreitet. Haut und Fleisch des Beins sind tiefschwarz verfärbt.
Die Verletzung, die der Mann nur notdürftig und ohne ärztliche Hilfe selbst versorgen konnte und bei der es sich vermutlich um eine Bisswunde handelt, hat letztendlich zu seinem Tod geführt.
Die Fliegen umschwirren den Leichnam nun immer hektischer, weil der Gestank der fortschreitenden Verwesung und des entzündeten, abgestorbenen Gewebes, der den Schlafraum erfüllt, ihnen ein Festmahl und einen idealen Ort für die Eiablage verspricht. Obwohl Tür und Fenster geschlossen sind, hat es das halbe Dutzend Fliegen dennoch irgendwie geschafft, durch schmale Ritzen und winzige Löcher einzudringen, angelockt vom verführerischen Duft des Todes.
Schließlich landet die erste Fliege auf der Nasenspitze des Toten. Ihr Ziel ist eins der leblosen, aber immer noch feucht glänzenden Augen. Die übrigen Tiere folgen ihrem Beispiel, als sei sie der Anführer einer kleinen Expeditionsgruppe, landen jedoch auf dem rotbraun und eitergelb verfärbten Gaze des Verbands, wo ihnen der Geruch besonders verlockend erscheint.
Die Luft, die vom Gestank nach Tod, Verwesung und entzündetem Fleisch erfüllt ist, ist erdrückend warm und stickig. Kein Luftzug dringt von draußen ins Innere des Zimmers.
Das Schlafzimmer, das nur ein breites Bett, ein Nachtkästchen, einen geschlossenen Schrank und ein mit Büchern gefülltes Regal enthält, macht einen verwahrlosten und chaotischen Eindruck. Zahlreiche Kleidungsstücke liegen auf dem Boden verstreut. Rechts neben dem Bett stehen ein Paar Turnschuhe, der linke ist voller Blut, das von der Unterschenkelwunde auf ihn getropft ist. Daneben liegt eine selbst gebastelte Krücke, die aus einem Besen besteht, dessen Borsten der Mann mit einem Handtuch gepolstert und dessen Stielende er mit Schaumstoff umwickelt hat. Auf dem Nachtkästchen liegen neben einer Taschenlampe und einer leeren Wodkaflasche mehrere leere Blisterverpackungen und Tablettenschachteln.
Nachdem die Fliegen sich auf dem Leichnam niedergelassen und ihr Festmahl begonnen haben, herrscht wieder atemlose Stille. Nicht einmal von draußen dringt ein Laut herein, obwohl helllichter Tag ist. Die Sonne scheint durch einen unterarmbreiten Spalt zwischen zwei Brettern aus Kiefernholz, die vors Fenster geschraubt wurden. Außerdem wurde der Fenstergriff entfernt. Die einzige Tür in den Raum ist ebenfalls geschlossen.
Plötzlich gibt die Leiche ein leises Stöhnen von sich.
Die Fliegen lassen sich davon allerdings nicht beirren. Durch die Zersetzung können sich in einem toten Körper Gase bilden, die dann durch diverse Körperöffnungen entweichen. Geschieht dies durch den Mund, hört es sich beinahe wie ein gespenstisches Stöhnen an.
Doch dann stöhnt der Tote ein weiteres Mal, länger und ausdauernder, und dieses Mal wird klar, dass keine infolge der Verwesung austretenden Gase die Ursache dafür sind.
In nächsten Moment beginnt der Körper des toten Mannes krampfartig zu zucken, als habe er einen Stromschlag bekommen. Die Fliegen werden durch die Bewegung aufgeschreckt und sind gezwungen, die reichhaltige Festtafel allzu früh zu verlassen. Sie erheben sich irritiert in die Luft und umschwirren den bis vor wenigen Sekunden mausetoten, nun jedoch wieder mit Leben erfüllten Mann. Währenddessen zucken sämtliche Gliedmaßen unkontrolliert, als habe er die Kontrolle über die Muskeln und Sehnen seines Körpers noch nicht vollständig wiedererlangt.
Als der rechte Fuß wie in einem Reflex ruckartig nach oben gerissen wird, strafft sich die Schnur, die um den großen Zeh gebunden wurde. Sie ist mit mehreren anderen Stücken zu einem langen Seil geknüpft worden, das über zwei Rollen, die am Bett und an der Wand befestigt wurden, umgeleitet wird und bis zum Schrank führt, wo es in einem daumendicken Loch verschwindet. Sobald sich das Seil gestrafft hat, ertönt aus dem Inneren des Schranks ein gedämpftes Klicken. Fünf Sekunden später ist aus den beiden Lautsprechern, die über dem Schrank an der Wand hängen und deren Kabel ebenfalls ins Innere des Schranks führen, ein lautes Rauschen zu hören, das sogar das wütende Brummen der Fliegen übertönt.
Das plötzliche Geräusch scheint dem reanimierten Leichnam einen Schrecken eingejagt zu haben, denn er rollt abrupt zur Seite und fällt vom Bett. Dabei löst sich die Schnur vom Zeh, doch das macht nichts, denn sie hat ihren Zweck erfüllt und ist nutzlos geworden. Der wiedererweckte Tote landet krachend auf dem Laminatboden und stößt ein lautes Stöhnen aus. Allerdings nicht vor Schmerzen, denn er verspürt keinen Schmerz. Dann verstummt er wieder und bleibt reglos