Raphael Reloaded. Barbara E. Euler

Raphael Reloaded - Barbara E. Euler


Скачать книгу
Polizeichef hinter Gitter gebracht hatten. Bestimmt gab es für das alles eine Erklärung. Bestimmt musste er nur das Ergebnis der Spurensicherung abwarten, dann würde sich alles klären.

      Anna sah ihn erwartungsvoll an, als er die Glastür öffnete. „Und?“, sagte Piet zerstreut, den Blick schon wieder auf dem Bildschirm. Anna lächelte und wartete, bis der Kollege sich aus dem Rollstuhl in seinen Bürosessel gehievt hatte. Er tat sich schwerer damit als vor dem Attentat, das war deutlich zu sehen. Anna seufzte. Sie wurden alle nicht jünger.

      „Was passt dir jetzt schon wieder nicht?“, fuhr der Haupt­inspektor sie statt einer Begrüßung an. Oha. Anna zurrte ihr Lächeln fester. „Kaffee?“, fragte sie. Das wirkte immer.

      „Ist Azif nicht mitgekommen?“, Piet sah widerwillig von seiner Arbeit auf.

      „Ja. Nein. Nein, verdammt. Ist er nicht. Kaffee, ja!“, bellte Raphael. Anna verzog das Gesicht. Man konnte Piet nicht vorwerfen, übermäßig sensibel zu sein. Sie zischte böse. „Bitte“, flüsterte Raphael reumütig.

      „Warum denn nicht?“, bohrte Piet weiter. Anna floh zum Kaffee­­automaten. Was für ein Morgen. Montag halt. Schon als der Anruf gekommen war, hatte sie kein gutes Gefühl gehabt. Anna steckte einen Euro in den Automatenschlitz und drückte auf Kaffee schwarz. Wie viel gutes Gefühl sollte man auch haben, wenn eine Wasserleiche angespült worden war. Sie starrte auf den Plastikbecher, der aus dem Schacht gepurzelt kam, und auf das prustende, spritzende Rinnsaal, das halb in ihn reinlief und halb daneben, wie der Pissstrahl eines sehr alten Mannes. Anna fasste den Becher mit spitzen Fingern. Sie dachte an das erste Mal, dass sie hier mit Raphael gestanden hatte, nachdem er damals aus der Reha zurückgekommen war. Das erste Mal, dass sie für ihn den Euro in den viel zu hohen Schlitz gesteckt hatte. Das erste Mal, dass sie an seiner statt auf den Rückgabeknopf gehauen hatte, als der Automat wie so oft seinen Dienst verweigert hatte.

      Früher hatte er dagegengetreten, mit seinen albernen Cowboyboots. An jenem Tag war er bloß dagesessen und hatte auf ihren Bauch gestiert. „Lass gut sein“, hatte er schließlich gesagt und war hinter ihr her gerollt, kaffeelos. Wenig später hatte er sie angeherrscht, bloß weil sie ihm eine Akte aus dem Archiv hatte holen wollen. Wie ein wütendes Geschoss war er davongerast. Es ist MEIN Fall, verdammt. Sie hatte grade noch wegspringen können.

      Auch damals hatte er seine Verzweiflung hinter Rüpeleien und Grobheit versteckt. Aber damals hatte sie das nicht verstanden. Sie hatte den Tag verwünscht, als Raphael plötzlich wieder bei ihnen reingeplatzt war, ein nutzloser Invalide, um den sie sich auch noch würden kümmern müssen, neben all dem anderen. Quotenkrüppel, hatte der Korpschef gesagt. Anna hatte Piet angefleht, Raphael wieder heimzuschicken, und hatte doch gewusst, dass man diesen Typen niemals wieder loswerden würde. Einen Schwerbehinderten. Und ein echtes Arschloch. Sie hatten einen raubeinigen Einzelkämpfer verloren und dafür einen zynischen Fatalisten bekommen, der noch mehr fluchte als zuvor, was man nicht für möglich gehalten hätte, hätte man es nicht selbst gehört.

      Anna grinste tapfer und schob dem Kollegen den Kaffee hin. Man gewöhnte sich dran. Und Raphael war immer noch ein Kämpfer. Und was für einer. „Bitte“, sagte sie freundlich und setzte sich an ihren Platz, ihm direkt gegenüber.

      „Was ist denn jetzt?“, sagte Piet über das Ticken seiner Tasten.

      Raphael legte die großen, tätowierten Hände um den dünn­wandigen Becher und ließ das Plastik knacken.

      „Nichts.“ Er senkte das Gesicht über den Kaffee und schlürfte.

      „Wie, nichts?“ Piet hatte zu tippen aufgehört. Er sah den Kollegen an, ein Hauptinspektor wie er selbst, der eine eigene Einheit leiten könnte, aber es vorgezogen hatte, in seiner, Piets, Truppe zu bleiben.

      Quasi unter meiner Obhut, dachte Piet, und dass Raphael es wirklich schlimm getroffen hatte.

       Zu fünft hatten sie versucht, den Lkw zu stoppen, aber Raphael war es gewesen, dem es schließlich gelang. Als sie ihn fanden, lag er unter seiner Harley. Die Harley lag unter dem umgekippten Zwanzigtonner. Selbst der Notarzt hielt Raphael für tot. Den Flüchtlingen in dem verschweißten Container war nicht viel passiert. Ein paar Knochenbrüche. Ein paar Platzwunden. Ein, zwei Stunden später, und sie wären alle erstickt.

      Raphael hatte drei Jahre gebraucht, um zurückzukommen. Kurz darauf dann der Mord­anschlag. Das hatte ihn ein weiteres Jahr gekostet. Piet sog die vertraute Büroluft in die Lungen und hielt sie.

      Jeder andere wäre in Pension gegangen. Der hier machte einfach weiter.

      Vielleicht wegen diesem Azif. Zwielichtiger Typ, irgendwie. Ein Flüchtling. Hatte in dem Lkw gesteckt, der den Kollegen Rozenblad zermalmt hatte. Und dann war der auch noch bei der Federale Politie. So einer, der überall und nirgends rumsprang, während sie hier vor Ort die Arbeit machten.

      Piet blies langsam die Luft aus. Es ging ihn nichts an. Der Mann hatte für seinen Job den Kopf hingehalten. Und nicht nur den. Jan war mit seiner Enduro einmal komplett über ihn drübergefahren. Wenn der Afrikaner nicht so eitel wäre, würde er hinken wie der Glöckner von Notre Dame.

      Piet biss sich auf die Lippen. Der Bursche hielt was aus. Wie Raphael. Höllenhunde waren sie, alle beide. Und die Idee mit dem Trike war einfach klasse. Der Mann hätte ruhig mit raufkommen können. „Deinen Bericht, Raphael“, bat Piet besänftigt.

      Raphael unterbrach sein Schlürfen. „Meinen?“ Er presste den schwieligen Handballen auf den Becherrand. „Gleich kommen zwei Dutzend beschlagnahmte Handys rein. Da ist alles drauf.“

      „Wie bitte?“

      „Ich bin raus, Piet.“ Raphael fuhr sich über das Gesicht. Vielleicht war er schon ein Youtube-Star. The Walking Dead.

      Resigniert nahm er eine Akte von dem mächtigen Stapel auf seinem Schreibtisch. Piet schonte ihn nicht. Auch der neue Korpschef traute ihm was zu. Sie sind ein Vorbild, Rozenblad. Es schien ihn nicht zu stören, dass Raphael seinen Vorgänger ins Gefängnis gebracht hatte. Raphael nahm einen Schluck Kaffee und öffnete die Akte. Piet schlug in die Tasten.

      Anna räusperte sich. „Da waren Leute am Strand?“

      „Es sind immer Leute am Strand.“

      Anna lachte. Piet sagte: „Raphael. Anna. Bitte.“

      „Und die haben gefilmt?“ Anna blieb hartnäckig.

      „Ja, Mann. Ganz großes Kino.“

      „Mit einer Leiche als Hauptdarsteller. Echt jetzt?“

      „Ja. Nein. Auch.“ Raphael fegte wütend eine Seite um. „Lass mich, verdammt. Ich arbeite.“

      Anna und Piet tauschten vielsagende Blicke.

      „Was?“, schnauzte Raphael, als er es sah.

      Anna schloss die Augen. Es gab Tage, an denen Kaffee nicht half. Sie machte die Augen wieder auf. „Zeig mal!“, behutsam zog sie die Akte zu sich hin. Freundlichkeit und Respekt. Raphael hatte sie das gelehrt.

      „Kein Bericht, oder wie?“, sagte Piet, aber niemand reagierte.

      „Ah, die Hotelsache!“ Anna lächelte Raphael zu. Wie blass er war. Sie schob ihm die Akte wieder hin. „Na dann, viel Spaß!“

      Raphael nickte matt. „Wenn ich was tun kann“, sagte die Kollegin, und er war nicht sicher, was sie meinte, und senkte den Kopf wieder über das Papier.

      „Azif“, sagte er plötzlich.

      Das also. Anna setzte sich grade. „Was ist mit ihm?“

      Er sah sie an. „Ich weiß es nicht, verdammt. Plötzlich wollte er weg. Sagte was von Stammesnarben. Aber da war nichts“, er hielt inne. „Anna, wenn ich ihn nicht so gut kennen würde …“

      „Wie gut kennst du ihn denn?“ Piet, der es nicht lassen konnte.

      „Verdammt gut, wir sind … wir haben zusammen …“, er presste die Handflächen gegeneinander. „Wir


Скачать книгу