Raphael Reloaded. Barbara E. Euler

Raphael Reloaded - Barbara E. Euler


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daran denken. Du schaffst das auch ohne …

      Azif, dachte er dann doch.

      Er musste was tun.

      Jetzt.

      Raphael presste die Kippe in den randvollen Ascher und ließ den Motor an.

      * * *

      Künstliche Kälte schwappte ihm entgegen, als er durch die breite Türe in die Leichenschauhalle des städtischen St.-Jan-Krankenhauses fuhr. „Hallo?“, er kurvte zwischen den Stahl­tischen umher und hob Tücher, die auf kalkweißen Gesichtern lagen.

      „Rozenblad!“

      Raphael ließ das Tuch sinken, das er gerade hielt. Die Stimme der Ärztin klang angestrengt fröhlich. Raphael drehte sich herum und lächelte. Polizisten kamen mit drängenden Fragen, Forderungen. Arbeit. Das sah niemand gern. „Die Leiche vom Strand“, sagte er fest, „wo habt ihr die?“

      „Moment, ich schau mal nach …“, Dr. Christiaens huschte hi­naus. Raphael starrte ihr nach. Warum zeigte sie ihm nicht einfach, wo der Tote lag?

      „Ich wollte sichergehen“, die Ärztin trat wieder durch die Türe. Sie hob entschuldigend die Hände. „Er ist noch nicht hier, Rozenblad. Morgen wahrscheinlich. Sorry.“ Sie zog Gummihandschuhe an und beugte sich angelegentlich über einen ihrer stummen Pa­tien­­ten. Gespräch beendet.

      Raphael schnappte nach Luft. So unerwünscht hatte er sich hier noch nie gefühlt. Wütend riss er weitere Tücher hoch, bis er sich besann und grußlos den Raum verließ. Er musste die Toten ruhen lassen. Vorerst.

      Endlich fiel ihm ein, Anna anzurufen, aber kriegte kein Netz. Nicht hier in dieser Gruft. Tote telefonierten nicht und waren nicht auf Facebook.

      Doch. Waren sie schon. Raphael dachte an Accounts, die er besuchte wie einen Schrein, wenn der Morgen nicht kommen mochte. Den Account eines Kollegen, der im Dienst verunglückt war. Den seines Cousins Zubin, der sich das Leben genommen hatte. Den von Amira, die ertrunken war, damals, als sie von dem brennenden Boot ins Wasser sprang …

      Die verdammten Tabletten. Raphael schüttelte sich und der Gedankenstrom stoppte. Bloß weg hier. Raus.

      Es regnete noch immer, als er wieder ins Auto kletterte, aber er hatte Anna erreicht, die ihm riet, nach Hause zu gehen; vielleicht war was in seiner Stimme gewesen. Ich mach auch bald Schluss, hatte sie gesagt und dass sie sich mit jemand treffen würde, sie hatte freudig geklungen und es hatte ihm ins Herz geschnitten. Viel Spaß, hatte er geknurrt, und Anna, die schöne, kühle Anna, hatte gelacht.

      Raphael zupfte das erste Rad vom Rollstuhl und schmiss es auf die Rückbank. Er fluchte, als der nasse Reifen eine Dreckspur über seine Jacke zog. Warum konnte er nicht besser aufpassen. Mürrisch verräumte er den Rest. Dann fummelte er im Handschuhfach nach der letzten Zigarette und legte den Kopf zurück und blies Rauchringe gegen das vergilbte Wagendach. Werner würde sich freuen; er wusch für sein Leben gern.

      Einen Augenblick dachte er an die riesige Waschmaschine des psychiatrischen Krankenhauses, in der Werner beinahe umgebracht worden wäre, weil er gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen. Der einzige Zeuge. Es war ein Wunder, dass der Mann jetzt so normal war. Naja, normal. Raphael grinste. Werner war prima. Vergebens überlegte er, wann er ihm das zum letzten Mal gesagt hatte. Dann vergaß er es wieder.

      Der Feierabendverkehr nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Alles hastete heim, zu Frau und Fernseher und Kind. Zu Bier. Bett. Freunden. Fuck. Raphael sog heftig. Hustend fingerte er über das Handy-Display. Ein Fahrradbote schnitt ihn. Deli-Express. Raphael rammte die Bremse rein. Wütend zog er wieder das Handgas, dass die Reifen kreischten. Der Radler piekte mit dem Mittelfinger nach ihm. Idiot. Endlich fand er die Nummer. „Azif!!!“, brüllte er, aber niemand ging ran.

      * * *

      Der Regen hatte einer schüchternen Abendsonne Platz gemacht, die den hübschen weißen Renaissancebau der Grundschule Hemels­daele am St.-Jans-Platz beschien. Auf dem regenschimmernden Pflaster vor der Schule breitete sich ein Meer von Kerzen, Teddys, Bildern, Blumen.

      Raphael bremste sanft und fuhr rechts ran. Niemand würde den mattschwarzen Miniwagen bemerken, der in einigem Abstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Raphael wartete.

      Er war schon mehrmals bei der Gedenkstätte gewesen, das erste Mal, ehe er die Mutter in die Leichenhalle begleitet hatte. Vielleicht, dass er verstehen könnte, nachvollziehen, wie sie sich fühlte, ein bisschen wenigstens. Zu der Zeit hatte es nur ein paar Kerzen gegeben und ein paar Kinderzeichnungen in Plastikmappen.

      Raphael dachte an seine eigene Zeichnung, die er für die Therapeutin hatte machen müssen. Ein Baum, ein Zelt, ein Mädchen. Eine Sonne. Ein Motorrad. Gut, hatte die Therapeutin gesagt. Sie hatte ihm die Zeichnung in Folie geschweißt und er hatte sie unter sein Kopfkissen gelegt wie eine Smith & Wesson.

      Einmal hatte die Zeichnung ihm das Leben gerettet, zumindest glaubte er das. Raphael rieb sich über die Augen. Da drüben beugte sich jetzt eine Frau zu den Sachen runter. Es waren viele. Jedes Mal, als Raphael hier übers Wochenende vorbeigekommen war, hatte die Menge der abgelegten Gegenstände zugenommen. Mehrmals war er ganz dicht vorübergefahren und hatte zu studieren versucht, welche davon neu waren. Alle Dinge hatten eine Sprache, man musste sie nur entziffern.

      Das Licht der tief stehenden Sonne beschien die Szene. Die Frau hob einen Teddy aus der Menge heraus und drückte ihn gegen ihr Gesicht. Als ein auf dem Gehweg radelndes Kind seine Hupe quietschen ließ, schreckte sie auf, ließ den Bär fallen und rannte davon.

      Er wusste, wer die Frau war, und jetzt sah er auch, dass Dinge fehlten. Er wartete, ob sie zurückkäme. Nach ein paar Minuten stieg er aus.

      Gleich beim Abfallkorb neben dem Schultor hatte er Erfolg. Raphael linste in die dunkelgrüne Eisentonne, Einwurfschlitz auf Kinnhöhe. Immer der Nase nach, dachte er und fischte zwei Teddy­­bären aus dem Müll. Der Geruch von verschimmeltem Pausenbrot und vergorenem Apfel klebte auf seinen Schleimhäuten, als er die Bären zu den anderen zurücksetzte. Über das holprige Pflaster steuerte er den Abfallkorb am anderen Ende des kleinen Platzes an, von einer Gruppe japanischer Touristen staunend beäugt.

      Insgesamt hatte er fünf Bären, zwei Kerzen und eine Zeichnung an ihren Platz zurückgebracht und den zu Boden gefallenen Teddy auch, als er sich wieder ins Auto setzte und heimfuhr. Die Frau hatte sein Kärtchen. Sie war am Ende. Sie würde sich melden.

      * * *

      Werner hatte vegane Pasta Bolognese gemacht. Das hat gar kein Cholesterin, Raphael, probier mal! Raphael kaute langsam und versuchte zufrieden auszusehen. Er fasste nach der Ketchupflasche. Dann ließ er die Hand wieder sinken. „Schmeckt“, sagte er ehrlich überrascht, und Werner strahlte.

      Dann machten sie den Abwasch; es war fast wie früher, mit Grit, aber sie war nicht so akkurat gewesen und kochen hatten sie beide nicht gekonnt. Raphael grinste wehmütig und schrubbte zum dritten Mal einen Teller, den Werner hatte zurückgehen lassen, vorwurfsvoll auf die Pastapampe weisend, die im Geschirrtuch klebte.

      Grit. Die er rausgeworfen hatte. Damals hatte er gedacht, es wäre besser so.

      Sie arbeitete noch immer im St. Jans. Sie war gut. Zu gut für ihn. Raphael seufzte.

      Grit hatte ihm einen Wert gegeben und einen Platz in der Welt. Alles, was er war, verdankte er ihr. Alles, was er getan hatte, hatte er nur für sie getan. Selbst als er sie rauswarf. Er hatte ihr nichts zu bieten gehabt. Gar nichts.

      Raphael spülte die letzte Schüssel und trocknete seine Hände ab. „Ich muss zum Training.“

      „Raphael. Nicht mit dem Geschirrtuch“, Werner hielt ihm ein Frotteehandtuch hin. „Training ist dienstags“, ergänzte er streng. Raphael seufzte. Wann die Wheeled Warriors trainierten, bestimmte er immer noch selbst.

      Als Raphael nach der Armbrustattacke in der Klinik gewesen war, hatte Werner sich rührend um die rollende Kampfsporttruppe in der Bruchbude am Hafen gekümmert, aber ein Sportler war er nicht und


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