Kullmann in Kroatien. Elke Schwab
Oberfläche“, sinnierte Kullmann
„Und deshalb müssen diese Typen dahinten“, Anke zeigte mit dem Finger auf den Tisch, an dem der Hummer vorgeführt worden war. „dieses Tier quälen? Warum tun diese Menschen dem armen Tier so etwas an? Nur zur Unterhaltung?“
Kullmann schaute Anke erstaunt an.
„Deine Frage sollte lauten: Warum tun Menschen anderen Menschen Schlimmes an“, korrigierte Kullmann. „Vergiss nicht, in welchem Beruf du arbeitest.“
„Du hast recht. In meinem Beruf ist für Sentimentalitäten kein Platz.“
„Trotzdem verstehe ich dich. Ich denke nicht anders. Nur der Unterschied zwischen uns ist der, dass ich pensioniert bin und du noch einige Jahre in deinem Beruf arbeiten musst.“
Die Hauptspeise wurde genau im richtigen Augenblick serviert. Es gab Pasticada, mariniertes Rindfleisch mit Zwiebeln und Knoblauch in Rotwein gekocht. Dazu wurden Kartoffeln mit Rosmarin gereicht. Allein der Anblick ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es schmeckte so gut, wie es aussah. Alle verfielen in genüssliches Schweigen. Der Rest des Abends verlief angenehm. Leise Musik lief im Radio und der Kellner richtete stets seine Aufmerksamkeit auf Kullmanns Tisch. Kein Wunsch lieb lange offen. Zum Abschluss des Abends bestellte Kullmann für alle noch einen hochprozentigen Pflaumenschnaps namens „Sljivovica“, der ihnen so heftig im Hals brannte, dass niemand mehr Lust auf einen zweiten hatte.
Im Abendrot spazierten sie über die Promenade wieder zurück in Richtung Hotel. Der Gitarrenspieler spielte inzwischen verträumte Klänge, Grillen zirpten, leise schwappte das Wasser ans Ufer.
Lisa war aufgewacht, blieb aber ruhig in ihrem Buggy sitzen, ein deutliches Zeichen für ihre Müdigkeit. Mit großen Augen schaute sie sich um. Gemächlich überquerten sie den großen Platz, dessen Mitte ein Brunnen zierte. Das östliche Stadttor zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Barockes Tor aus dem 17. Jahrhundert, an dessen Rundbogen – dem Balbie-Bogen - je rechts und links ein Wappen und in der Mitte der Markuslöwe, das venezianische Wahrzeichen, prangten. Durch diese Pforte schritten sie hindurch und gelangten in die Altstadt von Rovinj. In alle Himmelsrichtungen lagen vor ihnen schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster.
„Wie sagte Wilhem Tell schon einst?“, fragte Kullmann grinsend.
Anke antwortete: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“
„Doch leider sind hier viele hohle Gassen“, merkte Kullmann an. „Was würde Wilhelm Tell in dem Fall sagen?“
„Folget mir, ich komme nach.“
Kullmann lachte. Zusammen mit seiner Frau Martha folgte er Anke, die mit ihrem Kinderwagen den Weg einschlug, auf dem die meisten Touristen flanierten. Schon bald stellten sie fest, dass sie sich verlaufen hatten. Eingerahmt von Künstlerateliers voller Maler, die ihre Werke zum Verkauf anboten, führte die Via Grisia immer steiler bergauf, bis sie vor der großen Kirche der Heiligen Euphemia am höchsten Punkt der Stadt standen.
Im gleichen Augenblick begannen die Glocken des angrenzenden Glockenturms zu läuten.
Die Uhr schlug zweiundzwanzig Mal.
„Diesen Ort möchte ich mir ja gerne ansehen – aber am Tag, wenn die Kirche geöffnet ist“, bekannte Kullmann. „Wir werden wohl das ganze Stück zurückgehen müssen.“
„Mein Spürsinn hat uns wohl in die Irre geführt“, gestand Anke.
„Warum?“, fragte Kullmann. „Das ist ein sehr schöner Platz, den wir sonst nicht gesehen hätten.“
Anke wurde warm ums Herz. Dieser Mann, ihr ehemaliger Chef und Mentor gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es niemals in ihrem Leben erfahren hatte. Umso schöner war es für sie, diesen Urlaub mit solchen wunderbaren Menschen zusammen verbringen zu dürfen.
Von neuer Neugier angetrieben schaute sie sich auf dem großen Platz um. Dicht am Abgrund entdeckte sie einen hässlichen, steinernen Bunker mit einer Stahlkuppel. Sie überlegte, ob sie vor einem Relikt aus dem II. Weltkrieg oder aus dem Balkankrieg stand. Kullmann trat auf sie zu und beantwortete ihr die Frage, ohne dass sie sie gestellt hätte: „Das ist ein sogenanntes MG-Nest aus dem II. Weltkrieg. In der Feldbefestigung wurden die Kampfanlagen ‘Nester’ bezeichnet. Sie sollten Schutz gegen Gewehrbeschuss und Splitter bieten."
Anke wollte darauf zugehen und sich das Bauwerk näher betrachten. Doch Kullmann schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er und seine Frau hatten andere Pläne. Sie umrundeten den großen Platz und stießen auf der anderen Seite auf eine Gasse, die steil bergab führte.
Dort bogen sie ein.
Das Kopfsteinpflaster stellte sich als gefährlich heraus. Die Pflastersteine waren glatt und rutschig. Immer wieder gerieten sie ins Schlittern, mussten sich hüten, nicht zu stürzen. Unten angekommen, war Kullmann außer Atem. Er hatte nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf seine Frau achten müssen. Anke hatte dagegen leichter gehabt. Der Kinderwagen hatte ihr Halt gegeben. Dieser Tag war der erste, an dem sie dankbar dafür war, ein solches Gefährt mit sich herumzufahren.
Kaum standen sie sicher auf ihren Beinen, trauten sie ihren Augen nicht. Direkt vor ihnen offenbarte sich das Hotel „Villa Angelo D’oro“.
„Wir sind den richtigen Weg gegangen, ohne es zu merken.“ Kullmann lachte.
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