Geisterenthüller John Bell. Erik Schreiber

Geisterenthüller John Bell - Erik Schreiber


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und zu Geld gekommen. Er starb, als sein Sohn noch ein junger Mann war. Dieser erbte allerdings alle Untugenden des Vaters. Er kehrte nach Hause zurück, besuchte die Mühle und erfand, da er Talent für Mechanik besaß, den rotierenden Boden. Er verwandelte die Mühle in ein Gasthaus und setzte Bindloss, einen seiner ‚Kumpels‘, als Eigentümer ein, mit der vollen Absicht, von Zeit zu Zeit nichtsahnende Reisende ihres Geldes wegen umzubringen.

      Die Polizei jedoch suchte ihn bald darauf wegen einer geprellten Rechnung und er dachte, es sei das Beste zu fliehen. Bindloss war alleine mit der ganzen Sache. Aus Angst vor Wentworth, der ihn wegen eines lange zurückliegenden Verbrechens in der Hand hatte, ermordete er in zwei Fällen selbst das Opfer in der runden Kammer. Inzwischen waren mehrere unerwartete Todesfälle im alten Zweig der Wentworth-Familie eingetreten und Archibald Wentworth allein stand zwischen seinem Cousin und dem riesigen Vermögen. Wentworth kehrte nach Hause zurück und mit der Hilfe von Bindloss brachte er auch Archibald in seine Gewalt. Der junge Künstler schlief in dem verhängnisvollen Zimmer und sein Tod war die Folge. Zu diesem Zeitpunkt stehen Wentworth und Bindloss vor Gericht am Old Bailey und es gibt keine Zweifel, wie das Urteil ausfallen wird.

      Das Rätsel um den Geist vom ‚Castle Inn‘ ist natürlich für immer und ewig gelöst.

      Der Wächter der Tür

      „Wenn Sie es nicht glauben, können Sie es selber lesen“, sagte Allen Clinton, während er die Sprossen einer Leiter emporkletterte und unter den Büchern im obersten Regal suchte.

      Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück. Die Strahlen der untergehenden Sonne schienen durch das bunte Glas der Fenster in die alte Bibliothek und warfen gelbe und rote Bänder auf die Reihen von in schwarzes Leder gebundenen Ausgaben.

      „Hier, Bell!“

      Ich nahm Allen Clinton die modrige Ausgabe ab, die er zu Tage gefördert hatte.

      „Es ist ungefähr in der Mitte des Buches“, fuhr er eifrig fort. „Sie werden es sehen, in großen schwarzen altenglischen Buchstaben.“

      Ich blätterte durch die Seiten, die den Familienstammbaum und andere Aufzeichnungen der Clintons enthielten, bis ich zu derjenigen kam, die ich suchte. Auf ihr stand der Fluch geschrieben, der seit dem Jahre 1400 auf der Familie lastete. Langsam und mit Schwierigkeiten entzifferte ich dessen schreckliche Worte:

      „Und in dieser Kammer liegt sein Sarg, ein Sarg von nichtmenschlicher Form, den kein heiliger Boden aufgenommen hat. Hier soll es ruhen und die Familie der Clintons verfluchen von Generation zu Generation. Und aus diesem Grunde soll die Seele eines jeden Erstgeborenen, der Erbe ist, sobald sie dessen Körper verlässt, der Wächter der Türe werden bei Tage und bei Nacht. Tag und Nacht soll seine Seele bei der Türe stehen, die Türe geschlossen halten, bis der Sohn die Seele des Vaters ablöst von der Wache und seinen Platz einnimmt, bis auch dessen Sohn stirbt. Und wer die Kammer betritt, soll der Gefangene der Seele sein, die bewachet die Türe, bis sie ihn gehen lässt.“

      „Was für ein grässlicher Gedanke!“, rief ich mit einem Blick auf den jungen Mann, der mich während des Lesens beobachtet hatte. „Aber Sie sagen, diese Kammer sei nie gefunden worden. Ich würde sagen, ihre Existenz ist ein Mythos und der Fluch, dass die Seele des Erstgeborenen die verschlossene Tür bewachen muss, ist natürlich absurd. Materie gehorcht keiner Hexerei.“

      „Der merkwürdige Teil der Geschichte ist“, antwortete Allen, „dass jedes andere Detail der Abtei, auf welche diese Aufzeichnungen Bezug nehmen, identifiziert worden ist. Aber diese Kammer mit ihrem gruseligen Inhalt wurde nie gefunden.“

      Es war auf jeden Fall eine eigenartige Legende und ich gebe zu, dass sie mich beeindruckte. Ich war auch der Meinung, dass ich irgendwo schon einmal etwas Ähnliches gehört hatte, aber meine Erinnerung ließ mich im Stich.

      Ich war drei Tage zuvor nach Clinton Abbey zur Fasanenjagd gekommen.

      Jetzt war es Sonntag Nachmittag. Die Familie, abgesehen von dem alten Sir Henry, Allen und mir, war beim Gottesdienst. Sir Henry, mittlerweile fast achtzig Jahre alt und ein chronischer Kranker, hatte sich zu einem Nachmittagsschläfchen auf sein Zimmer zurückgezogen. Der jüngere Clinton und ich hatten einen Spaziergang über das Anwesen gemacht und seit wir zurückgekehrt waren, drehte sich unsere Unterhaltung um die Familiengeschichte. Schließlich gelangten wir zu dem Punkt mit dem Familienfluch. Beinahe im selben Moment wurde die Tür der Bibliothek langsam geöffnet und Sir Henry trat herein, gekleidet in einen schwarzen Samtmantel, der einen bemerkenswerten Kontrast zu seinem schneeweißen Haar und Bart bildete. Ich erhob mich aus meinem Sessel und reichte ihm den Arm, um ihn zu seinem Lieblingssofa zu geleiten. Mit einem Seufzen ließ er sich tief in die luxuriösen Kissen sinken, doch währenddessen fiel sein Blick auf das alte Buch, dass ich auf den Tisch daneben gelegt hatte. Er beugte sich hastig vor, nahm das Buch in die Hand und schaute zu seinem Sohn hinüber.

      „Hast du das Buch heruntergeholt?“, fragte er scharf.

      „Ja, Vater. Ich nahm es heraus, um es Bell zu zeigen. Er ist sehr interessiert an der Geschichte der Abtei, und ...“

      „Dann stell es sofort zurück“, unterbrach ihn der alte Mann, seine schwarzen Augen blitzten vor plötzlichem Zorn. „Du weißt, wie sehr ich es verabscheue, wenn meine Bücher umgestellt werden, und vor allem dieses. Warte, gib es mir.“

      Er kämpfte sich von dem Sofa hoch, nahm das Buch und schloss es in einer der Schubladen seines Schreibtisches ein. Dann setzte er sich zurück aufs Sofa. Seine Hände zitterten, als ob ihn eine plötzliche Angst überkommen hätte.

      „Hattest du gesagt, dass Phyllis Curzon morgen ankommt?“, fragte der alte Mann kurz darauf seinen Sohn mit gereizter Stimme.

      „Ja, Vater, natürlich. Erinnerst du dich nicht? Mrs. Curzon und Phyllis möchten für vierzehn Tage bleiben, und übrigens“, er starrte auf seine Füße, als er hinzufügte: „Das erinnert mich daran, dass ich gehen muss und Grace erzählen ...“

      Der Rest des Satzes verlor sich im Schließen der Tür. Sobald wir alleine waren, schaute Sir Henry für einige Minuten schweigend zu mir herüber. Dann sagte er: „Es tut mir leid, dass ich gerade so kurz angebunden war. Ich bin nicht ich selbst. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich wie in Stücke zerbrochen. Ich kann nicht schlafen. Ich glaube, meine Zeit ist gekommen, und ich sorge mich um Allen. Die Sache ist die, ich würde alles geben, diese Verlobung aufzulösen. Ich wünschte, er würde nicht heiraten.“

      „Es tut mir leid, das von Ihnen zu hören, Sir“, antwortete ich. „Ich hätte gedacht, Sie könnten es kaum abwarten, Ihren Sohn glücklich verheiratet zu sehen.“

      „Den meisten Vätern würde es so gehen“, war die Antwort, „aber ich habe meine Gründe, dass ich mir die Dinge anders wünsche.“

      „Was meinen Sie?“ Ich konnte nicht widerstehen zu fragen.

      „Ich kann es Ihnen nicht erklären. Ich wünschte, ich könnte. Es wäre das Beste für Allen, die Familie aussterben zu lassen. Das ist vielleicht töricht und natürlich kann ich die Hochzeit nicht wirklich verhindern, aber ich bin beunruhigt und besorgt wegen vieler Dinge.“

      „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Sir“, sagte ich spontan. „Wenn es mir irgendwie möglich sein sollte, etwas zu tun, wissen Sie, dass Sie mich nur bitten müssen.“

      „Ich danke Ihnen, Bell, ich weiß, dass Sie das würden. Aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Vielleicht eines Tages. Aber, verstehen Sie, ich habe Angst – furchtbare Angst.“

      Das Zittern überkam ihn wieder und er deckte die Hände über die Augen, als ob er sie vor einem furchtbaren Anblick schützen wollte.

      „Sagen Sie nichts von dem, was ich Ihnen erzählte habe, Allen oder irgendjemand anderem weiter“, sagte er plötzlich. „Es ist möglich, dass ich Sie eines Tages um Hilfe bitte. Und denken Sie daran, Bell, ich vertraue Ihnen.“

      Er streckte seine Hand aus, die ich annahm. Im nächsten Moment kam der Butler mit Lampen herein und ich nutzte die Unterbrechung, um mich auf den Weg zum Salon zu machen.

      Am nächsten


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