Die Dubharan. Norbert Wibben
Sandsteintreppe. Sie führt von einem großen, mit weißem Kies bestreuten Vorplatz zur zweiflügeligen Eingangstür des erhöht liegenden Erdgeschosses hinauf. Der Vorplatz füllt die gesamte Fläche zwischen den drei Gebäuden aus.
Zu diesem Platz führt eine Allee aus alten Eiben. Diese Zufahrt wird durch ein großes, schmiedeeisernes Tor unterbrochen. Das meistens geschlossene Tor ist Teil einer umlaufenden Backsteinmauer, die das gesamte Internatsgelände einfasst. Vor den beiden Kavaliershäusern und um sie herum wird die Kiesfläche weitergeführt. Sie umschließt somit alle Gebäude an den Seiten als breiter Weg.
An der Hinterseite des Hauptgebäudes befindet sich mittig, in Höhe des Erdgeschosses ein breites Podest. Davon ausgehend führen zwei Treppen, rechts und links, etwas geschwungen nach unten auf den Kiesweg. Der Weg geht in den Park über.
Die Schüler des Internats Coimhead sind aufgeregt. Morgen beginnen endlich die Sommerferien. Die letzten Klassenarbeiten sind bereits vor einer Woche geschrieben worden. Morgen erfahren sie die erzielten Ergebnisse. Sie erhalten ihre Zeugnisse und werden abgeholt. Einige, der von weiter weg kommenden, älteren Schüler, reisen eigenständig mit dem Zug zu ihren Familien.
Nicht jeder der Schüler im Alter von 10 bis 17 Jahren ist froh. Einige fühlen sich hier geborgener als Zuhause, manche haben hier ihre besten Freundinnen oder ihren besten Freund – auch geschlechterübergreifend. Oft vermissen sie diese jetzt schon. Unabhängig davon sind aber alle doch froh, den Abläufen und Zwängen des Internats für mehrere Wochen zu entkommen.
Eila ist eine der etwa 150 Schüler des Internats. Sie ist ein 16 jähriges Mädchen mit mittelblondem, nicht ganz schulterlangem, glatten Haar, das in der Mitte gescheitelt ist. Ihre Stirn ist sichtbar, da sie die vorderen Haare eines längeren Ponys oft hinter die Ohren streicht. Ihre Figur ist noch etwas jungenhaft. Sie ist schlank und wirkt sportlich.
Eila trägt gerne lange Hosen und dazu Pullover oder Shirts. Hier im Internat muss sie allerdings fast immer Schuluniform tragen, die keine langen Hosen für Mädchen zulässt. Da sie aber zu den Schülerinnen gehört, die die Schulpferde pflegen dürfen, trägt sie dabei selbstverständlich lange Hosen. Das ist sowohl beim Stall ausmisten, als auch beim Reiten in der Koppel durchaus angemessen. Beim Reiten fühlt sie sich glücklich, sie vergisst dann alles um sich herum. Das Mädchen kann besonders gut mit den Pferden umgehen, besser als alle anderen Schüler oder Schülerinnen.
Im Umgang mit anderen Menschen ist Eila zurückhaltend, nicht schüchtern, sondern eher etwas vorsichtig. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund. Hat sie jedoch mit jemandem Freundschaft geschlossen, steht sie ihm fest und engagiert zur Seite. Abhängig von der Situation kann sie sehr energisch sein. Dies ist immer dann der Fall, wenn es um den Schutz oder Einsatz für Benachteiligte geht.
Eila freut sich sehr, dass sie morgen zu ihrem Großvater Brian aufs Land in den Norden reisen wird. Dann kann sie täglich in Hosen herumlaufen, durch die einsame Gegend wandern und mit ihm im gemütlichen Wohnzimmer sitzen und heißen Kakao trinken. Etwas Wehmut verspürt sie aber doch, da sie während dessen nicht bei ihren geliebten Pferden sein kann. Trotzdem wird sie die Zeit mit Großvater genießen. Da ist sie sich ganz sicher!
Auch die bevorstehende Trennung von ihrer Freundin Anna versetzt ihr einen leichten Stich ins Herz. Außerdem ist da noch der gleichaltrige Simon, den sie gut leiden mag. Er ist eher still, nicht so laut, polternd und auf Selbstdarstellung fixiert wie viele andere Jungen. Er liest gern. In der Bibliothek hat sie ihn schon des Öfteren in einer Ecke lesend angetroffen. Dabei konnte sie immer wieder feststellen, dass er verstohlen zu ihr hinüberschaute. Ob sich daraus während des nächsten Schuljahres mehr entwickeln wird? Nach den Sommerferien wird sie in Coimhead die letzte Klasse absolvieren. Danach möchte sie an einer der großen Universitäten des Landes Tiermedizin studieren. Was Simon wohl werden will?
Eila hat ihre beste Freundin Anna im ersten Schuljahr im Internat kennengelernt. Bereits nach zwei Wochen waren sie unzertrennlich. Anna ist etwa gleich groß, ebenfalls schlank und sportlich aussehend. Ihre leicht gewellten, mittelblonden Haare sind etwas kürzer als Eilas. Eila und Anna bewohnen ein gemeinsames Zimmer in der oberen Etage des Mädchenhauses. Das Fenster geht zum Park hin.
Beide haben viele gemeinsame Interessen. In ihrer Freizeit lesen sie oft, albern herum, laufen durch den Park oder unterhalten sich über Jungen. Aber Anna teilt Eilas Liebe zu den Pferden nicht, sie hat eher etwas Angst vor den großen Tieren.
Die derzeitige Lieblingsbeschäftigung der beiden Mädchen ist das Erfinden und Fortführen kleiner Kurzgeschichten. Sie halten diese in einem Tauschbuch fest. Eila schreibt einen Teil einer erfundenen Geschichte und macht Zeichnungen dazu. Dann gibt sie es Anna, die in den nächsten Tagen die Geschichte weiterführt, bevor sie das Buch an Eila zurückgibt. Nun ist Eila wieder an der Reihe, usw. Beide genießen dies sehr. Oft lesen sie das bisher Festgehaltene und müssen heftig lachen.
An diesem Spätnachmittag sind die beiden Freundinnen in ihrem Zimmer. Anna liest in einem Buch, während Eila die Geschichte im Tauschbuch fortführt.
»Freust du dich auch so auf die Ferien?«, fragt Anna zu Eila blickend. »Ich kann es kaum noch erwarten, zu meinen Eltern und Geschwistern zu kommen. Wir wollen gemeinsam in die Berge verreisen. Dort werden wir zwei Wochen wandern und in Berghütten übernachten.«
Eila unterbricht ihre Zeichnung eines etwas sonderbaren, kleinen, gefleckten Hundes.
»Natürlich freue ich mich auch riesig auf die Ferien!« Helle, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen blicken Anna an. Auf und um ihre gerade Nase sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar. »Es gibt dann keinen Zwang zum Tragen der Schuluniform, es stehen keine Klassenarbeiten oder Tests an, und ich kann bei Großvater Brian sein.«
»Fährst du diesmal zu deinen Eltern?«
»Nein, die müssen arbeiten. Ich fahre zu Großvater, wo ich sehr gerne bin. Wir können aber nicht verreisen, so wie ihr, dafür ist Großvater nicht mehr kräftig genug. Seine alten Knochen wollen nicht so, wie er wohl möchte, und er ist manchmal schnell außer Atem«, erwidert Eila, sie freundlich anblickend.
»Das ist schade.« Anna macht eine kleine Pause und fährt dann fort. »Es ist schön in den Bergen. Die Wanderung einen Berghang hinauf, weiter über schmale Gipfelpfade, die ungehinderte, weite Rundumsicht, und nachts das Schlafen im Heu der Berghütten, so etwas ist einfach toll. Wie du weißt, haben wir das bereits mehrfach gemacht. Ich werde dir alles berichten.«
»Gut, da freue ich mich drauf. Bitte halte das genau in deinem Tagebuch fest. — Ich werde bei Großvater in seinen alten Büchern schmökern. Er hat so viele. Es sind auch sehr interessante darunter, mit geheimnisvollen Geschichten. Du weißt, dass ich so etwas mag. Manche Geschichten sind sehr spannend. Ich weiß noch, dass ich in den letzten Ferien ein Buch mit dem Titel »Anwendung magischer Sprüche« gesehen habe. Es kommt mir immer wieder in den Sinn. Das werde ich mal studieren.«
»Willst du eine Hexe werden?«, neckt Anna sie.
»Na klar, und zwar die größte unter allen Hexen. Ich werde dann das Böse aus der Welt vertreiben und allen wird es gut gehen!«, lacht Eila. Anna vertieft sich wieder in ihr Buch und Eila denkt an ihre Familie.
Wie eben zu Anna gesagt, fährt sie zu ihrem Großvater Brian, der, seit Großmutter Maireads Tod vor zwei Jahren, jetzt alleine in dem gemütlichen Haus wohnt, das auch ihr Heim ist. Ihre Eltern, John und Maggie, sind oft auf Reisen. Sie sind Historiker und forschen an geschichtlichen Stätten. Da beide viel Erfahrung in derartigen Forschungsarbeiten haben, bekommen sie immer wieder Aufträge an oft weit entfernten Orten. Die dafür notwendige Zeit ist ziemlich groß, so dass Eila kaum mit ihnen zusammen gelebt hat. Sie wohnte also bei den Eltern ihrer Mutter, Brian und Mairead. Diese haben sie groß gezogen, bis sie ins Internat kam. In den Ferien fährt sie immer dorthin zurück.
Da so gut wie nie vorher gesagt werden kann, wann ihre Eltern ihre Arbeit beenden oder unterbrechen können, sind gemeinsame Zeiten mit ihnen nicht planbar. Besuche in Brians und Maireads Haus fanden immer unerwartet statt, meistens zur Winterzeit.
Eila erinnert sich