Wandlerin. Ana Marna
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Prolog
Juni 2015
Rocky Mountains, Montana
Leises Stöhnen riss sie aus einem unruhigen Halbschlaf. Langsam richtete sie sich auf und versuchte, im schummrigen Licht etwas zu erkennen. Nur mühsam unterdrückte sie ein verzweifeltes Keuchen.
Sie war noch immer hier. Eingesperrt in diesem schrecklichen Käfig, umgeben von anderen Zwingern, in denen genauso geschundene Kreaturen hockten, wie sie selbst eine war.
Sie wusste nicht genau, wie lange man sie schon gefangen hielt, da das trübe Licht immer dasselbe war und die Zeit nur quälend langsam verstrich. Unterbrochen nur von unregelmäßigen Mahlzeiten und den Misshandlungen ihrer Bewacher.
Sie sah an ihrem nackten Körper hinunter, der übersät war mit Prellungen, Brandblasen und Schnitten.
Diesmal entfuhr ihr doch ein Keuchen.
Er hätte übersät sein müssen! Aber da war nichts! Keine Spuren der Misshandlungen. Ihre Haut war völlig makellos. Erst jetzt registrierte sie, dass sie auch keine Schmerzen verspürte.
Ihr Magen zog sich krampfartig zusammen. Das konnte nicht sein. So lange hatte sie nicht geschlafen. Das war hier in dieser Hölle gar nicht möglich. Wer beim Schlafen erwischt wurde, den rissen die „Wärter“ mit qualvollen Attacken wieder ins Bewusstsein.
Vorsichtig untersuchte sie sich, aber sie war tatsächlich völlig unverletzt. Sogar ihre verstauchten Knöchel, die noch vor wenigen Stunden schmerzhaft angeschwollen waren, wirkten geheilt.
„Herzlichen Glückwunsch, Kleine“, krächzte es von der Seite her.
Sie sah zum Nachbarkäfig, in dem ein nackter Mann hockte, der genauso ungewaschen und ungepflegt wirkte wie alle anderen Käfiginsassen. Lange Haare und ein wilder Bart klebten zottelig und verfilzt an seinem Kopf.
Eigentlich war er ein großer Mann. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sogar eine stattliche Erscheinung gewesen war. Doch im Moment wirkte er wie ein halbverhungerter Obdachloser mit flackernden irren Augen.
Er hatte schon so ausgesehen, als sie hier eingezogen war. Seinen Namen kannte sie nicht. Es war verboten zu reden. Wer sich daran nicht hielt – nun, ihre Bewacher hatten überzeugende Argumente.
Zum ersten Mal hörte sie ihn also reden und sah ihn überrascht an. Er verzog das Gesicht.
„Tut mir leid für dich. Du dürftest nicht hier sein. Niemand sollte das, aber du wirkst wie ein anständiges Mädchen.“
„Was passiert hier?“, wagte sie leise zu fragen.
Er grinste schräg. Doch die Grimasse wirkte verzweifelt.
„Nun, wir werden verbessert. Einer nach dem anderen. Wir sind die Monster der Zukunft. Bei mir hatten sie bisher ihre Schwierigkeiten, deswegen werde ich vermutlich bald den Abgang machen. Aber du – zumindest der erste Akt hat funktioniert.“
„Was passiert jetzt mit mir?“
Er schwieg kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Das verrate ich dir besser nicht. Aber wenn du meinen Rat willst: Sieh zu, dass du von hier verschwindest. Und traue niemandem. Alle werden versuchen, dich entweder zu benutzen oder zu töten.“
„Warum?“ Sie flüsterte unwillkürlich.
„Weil du ab jetzt ein Monster bist, Süße.“
„Ah, noch ist es nicht so weit“, klang es aus dem Dunkeln und eine hochgewachsene Gestalt trat unter die trübe Glühbirne.
Er war schlank, wirkte noch jung und hatte eine gepflegte Erscheinung. Gutaussehend. Normalerweise sahen ihm mit Sicherheit die Frauen hinterher.
Sie hätte es vermutlich auch getan. Doch hier und jetzt empfand sie nur bleierne Furcht vor ihm. Seine blauen Augen schienen sie aufzuspießen.
„Komm her, meine Hübsche“, forderte er sie auf und trat ans Gitter.
Entsetzt spürte sie, wie sich ihr Körper aufrichtete und ohne zu zögern auf ihn zuging. Sie kam sich vor wie eine hilflose Marionette, gebannt von seinem Blick.
Sein Arm streckte sich durch die Gitterstreben und unbarmherzige Finger umschlossen ihren Hals, um sie nahe an sich heranzuziehen.
„Noch bist du kein Monster, Menschlein, aber heute Nacht wirst du eines werden. Ich bin schon sehr gespannt, wie du dich schlägst. Hast du Angst vor Schmerzen? Glaube mir, du fürchtest dich noch nicht genug.“
Er zog ihren Kopf brutal bis an die Stäbe, so dass ihr Gesicht schmerzhaft an das Metall gepresst wurde. Seine Lippen berührten sanft ihren Hals, dann ließ ein quälend stechender Schmerz sie unwillkürlich aufschreien.
Er hatte sich in ihrem Hals verbissen und trank in gierigen Zügen von ihrem Blut.