Wandlerin. Ana Marna
Das wollte ich hören. Ich sage Wulf Bescheid, dass wir morgen vorbeikommen.“
Davor würden sie sich wohl nicht drücken können, das war Tiger inzwischen klar. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass er in die USA reisen würde.
Egal, was die Wölfe dazu sagten.
On the Road
Anfang Juli 2021
New York City, New York
Es kam selten vor, dass Bernart Dierolf einen Hafen betrat. Freiwillig eher nicht. Erst recht nicht, wenn es sich um den Hafenbereich von New York handelte.
Doch Bryans Anweisungen waren deutlich gewesen, und so postierte er sich mit mürrischem Gesicht am frühen Vormittag an dem ausgemachten Treffpunkt. Die Gerüche und der Lärm, die zu ihm herüberwehten, ließen seine Laune nicht gerade steigen.
Einzig die Aussicht, dass er New York nicht lange ertragen musste, ließ seine Stimmung nicht komplett abstürzen. Zudem war er, wenn er ehrlich war, mehr als gespannt, was die kommenden Wochen auf ihn zukommen würde.
Er betrachtete die Harley zwischen seinen Beinen und konnte sich ein selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Theo und er hatten die Road King in mühevoller Arbeit restauriert, und jetzt strahlte sie in neuem, bronzefarbenem Glanz. Sie hatten es sogar geschafft, diesem Baby ein paar PS mehr unter die Haube zu pflanzen. Es hatte Monate gedauert, und Dierolf hatte jede freie Zeit dafür genutzt. Jetzt konnte er mit Recht behaupten, dass es sich gelohnt hatte.
Es war schon länger her, dass er mit einem Bike durch die Gegend gefahren war, aber er hatte diese Zeit noch sehr positiv in Erinnerung. Somit war die Aussicht, die nächsten Wochen auf der Straße zu verbringen, gar nicht mal so übel. Zumal er überhaupt nichts dagegen hatte, seine neue Heimat zu erkunden.
Von daher musste er Bryan für diesen Job sogar dankbar sein. Was er natürlich niemals zugeben würde.
Gespannt blickte er wieder Richtung Hafen. Es war etwa ein Jahr her, dass er Mitglieder der Road Bastards kennengelernt hatte. Damals halfen die drei seinem Enkel Wulf Riemann bei der Rettung einiger Rudelfrauen. Beinahe hätten sie dafür mit ihrem Leben bezahlt, doch O’Brians, Wulfs und seine eigene Fürsprache, und nicht zuletzt Bryans Argumente, hatten Chief Martinak dazu bewogen, die drei Outlaws nicht hinzurichten.
Seitdem hatte er nichts mehr von ihnen gehört. Bryan hielt sich mit Informationen über die Road Bastards sehr zurück. Umso neugieriger war Dierolf, was die Biker von seiner Kindermädchenrolle halten würden. Vermutlich nicht viel, aber Bryan hatte unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht bereit war, die Nomads unbeobachtet zu lassen. Immerhin wussten zwei ihrer Mitglieder über Wölfe Bescheid, was eigentlich ein eklatanter Regelbruch war. Runner als alleiniger Aufpasser war wohl nicht vertrauenswürdig genug. Zumindest würden das alle anderen Rudelführer so sehen, da war sich Dierolf sicher. Wölfe wie Runner, die sich keinem echten Rudel anschlossen, wurden per se mit Misstrauen beäugt. Wenn es sich dann auch noch um Outlaws handelte, konnten sie erst recht nicht damit rechnen, dass man ihnen vertraute. Dierolf sah diese Situation sehr viel entspannter. Er kannte Runner nicht, aber der Bursche war seinem Anführer treu ergeben und hätte um das Leben seiner Bikerbrüder gekämpft, das hatte man ihm damals angesehen. So jemand verdiente Respekt, zumal er trotzdem bereit war, Wulfs Rudel zu unterstützen.
Dierolf wusste nicht, was Martinak mit dem Nomad-Anführer ausgehandelt hatte, aber dass der Chief die Biker nicht unbeobachtet ließ, davon konnte man wohl ausgehen. Und so, wie er Martinak kannte, würde dieser mit Sicherheit versuchen, aus einer solchen Verbindung auch Nutzen zu ziehen.
Ein ganz bestimmter Sound ließ ihn aufmerken und dem Geräusch entgegensehen.
Zwischen den Autos bewegten sich sieben Biker im Pulk auf ihn zu. Dierolf verschränkte demonstrativ die Arme und sah ihnen entgegen. Er nutzte die Zeit, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Alle Nomads trugen Lederhose, T-Shirt und ihre Club-Kutte, dazu schwere Bikerstiefel und die unterschiedlichsten Helme. Tiger, der President, fuhr vorneweg, direkt hinter ihm Runner und Rusty, der Vize-President. Ihnen folgten Ork, Flash, Lincoln und Liberty. Die Gesichter hatte er sich schon im Vorfeld eingeprägt. Orks hässliche Visage kannte er bereits, aber die anderen Männer waren ihm noch fremd. Er war ehrlich gespannt, wie er sich mit ihnen vertragen würde.
Die Nomads bremsten direkt vor ihm, ohne sich um den nachfolgenden Verkehr zu scheren. Wildes Gehupe und lautes Fluchen war die Folge, was die Biker überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen.
Tiger schob das Visier seines Jet-Helms hoch und grinste Dierolf an.
„Du bist Dierolf. Ich glaube, wir hatten schon das Vergnügen.“
Bernart nickte und grinste zurück.
„Yep. Wenn auch nur kurz, aber das wird sich ja jetzt ändern.“
In den Augen des Bikers las Dierolf, dass diesem diese Situation überhaupt nicht passte. Es würde vermutlich länger dauern, bis er das Vertrauen von Tiger gewinnen konnte.
Wie schon vor einem Jahr war er von der Größe und der Präsenz des Outlaws beeindruckt. Tiger hatte die Statur eines Kriegerwolfes und mindestens die gleiche aggressive und furchteinflößende Ausstrahlung.
Dierolf vermutete, dass er es selbst mit seinen Werwolfkräften schwer gegen Tiger hätte, falls es jemals zu einem Kampf kommen würde. Aber er hatte nicht vor, einen solchen Zusammenstoß zu provozieren.
Sein Blick glitt zu Runner, der ihn mit verkniffener Miene ansah. Dierolf war sich nicht sicher, wie viel der Wolf von ihm wusste und wie er zu ihm stand. Immerhin hatte er das Deutschland-Rudel einige Jahrzehnte gemieden und war in Europa als Regelbrecher und Unruhestifter verschrien. Nun, auch das würde er wohl bald herausfinden.
Die anderen Bastards betrachteten ihn mit Skepsis, aber auch mit einer Portion Neugierde. Lediglich Ork schenkte ihm ein hässliches Grinsen.
Tiger drehte sich zu seinen Leuten um.
„Jungs, das hier ist Dierolf. Er ist im Good Old Germany ein paar Leuten auf die Zehen getreten und hat sich spontan entschlossen auszuwandern. Er wird uns auf unserer Tour begleiten.“ Er nickte Richtung Dierolfs Harley. „Niedlich. Frisch gekauft?“
Dierolf bleckte reflexartig die Zähne.
„Frisch repariert, Bastard. Hat mich ‘ne Menge Zeit gekostet.“
Seine Hand strich liebevoll über den Tank, ohne dass er dem Blick des Bikers auswich. Daher entging ihm die Überraschung nicht, die in Tigers Augen aufflackerte.
Der President nickte anerkennend. „Hat sich wohl gelohnt. Na dann, du kannst dich hinten dranhängen.“
Dierolf fügte sich ohne Widerspruch. Tiger hatte das Sagen, das musste er wohl oder übel akzeptieren, und da er selbst maximal den Status eines Hangarounds besaß, konnte er sich wohl darauf einstellen „Mädchen“ für alles zu spielen.
Also reihte er sich ein und folgte den Nomads durch New York. Ein leises Grinsen überzog sein Gesicht, während er unter dem Gedröhn der schweren Motorräder durch die Straßen fuhr. Auch wenn sie mit acht Personen keine besonders große Gruppe waren, erregten sie Aufmerksamkeit. Er selbst war sicher nicht der Auslöser. Mit seiner Jeans und der stinknormalen Lederjacke wirkte er wohl eher wie ein normaler Biker. Die Nomads waren da ein ganz anderes Kapitel. Kuttenträger wurden immer misstrauisch beäugt und das Colour der Road Bastards war nicht gerade unauffällig. Auf dem Rücken prangte groß ein blutroter Totenkopf, der von gelben Flammen umzüngelt wurde. Darüber stand fett die Aufschrift „Road Bastards“, rechts darunter MC und unter dem Logo „Nomad, Germany“. Jeder der sieben Biker trug zusätzlich