Wandlerin. Ana Marna
Witz! Oder?“
Tiger starrte seinen President ungläubig an.
Big Man, National President des Road Bastards OMC, lümmelte sich lässig hinter dem riesigen Schreibtisch auf einem äußerst breiten Sessel und grinste ihn gehässig an.
„Mein Sohn, ich scherze nie, das solltest du doch wissen.“
„Ich bin nicht dein Sohn“, knurrte Tiger, obwohl Big Man in all den Jahren, die sie sich kannten, für ihn wohl zu einer etwas verqueren Art von Ersatzvater geworden war. Sie verband keine leibliche Verwandtschaft, aber in den letzten Jahren hatte Big Man ihn oft um seine Meinung gefragt und protegiert. Dazu kamen immer kniffligere Aufgaben und Einsätze, die nie ungefährlich waren. Es schien so, als würde der President der Road Bastards ihn testen wollen. Wofür auch immer. Aber vor allem lagen sie auf der gleichen Wellenlänge. Manchmal hatte Tiger sogar den Eindruck, dass sie sich nur ansehen mussten, um zu wissen, was im Kopf des anderen vor sich ging.
Tiger betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. Der President war in den letzten Jahren sichtlich gealtert. Klar, übermäßiger Alkohol, hemmungsloser Konsum von Junk-Food und ungebremster Sex mit jungen, willigen Biker-Fangirls hinterließen ihre Spuren, obwohl Big Man behauptete, das würde ihn jung halten. Er war deutlich massiger und langsamer als früher, auch wenn er immer noch wie ein Dampfhammer zuschlagen konnte. Sein rechter Haken war in der Bikerszene legendär.
Doch Tiger ließ sich nicht so leicht täuschen.
Sein Boss wurde alt. Seine Bewegungen, sein körperlicher Zustand, alles deutete darauf hin. Trotzdem loderte immer noch das aggressive Feuer in ihm, das die Road Bastards zusammenhielt.
Tiger wollte gar nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn Big Man einmal nicht mehr sein würde. Der alte Teufel war der intelligenteste Stratege, den er je kennengelernt hatte. Big Man hatte nur knapp zehn Jahre gebraucht, um aus einem Haufen lockerer Motorradclubs einen eingeschworenen Verein zu machen, der sich über die Gesetze der üblichen Bevölkerung kaputtlachte und nach eigenen Regeln lebte. Zugegeben, nicht gerade gesetzeskonforme Regeln, aber das störte niemanden in ihren Reihen. Im Gegenteil. Tiger mochte es, den Gesetzeshütern eine lange Nase zu drehen, und ihnen immer einen Schritt voraus zu sein.
Etwas, das er mit Big Man teilte.
Deswegen glaubte er tatsächlich, sich verhört zu haben.
„Ich soll Deutschland verlassen? Fuck, Boss, das ist echt ein schlechter Scherz.“
„Sorry, Junge, aber es muss sein. Gestern stand die geballte Staatsmacht vor meiner Tür und wollte wissen, wo du dich aufhältst. Angeblich hast du vor drei Wochen den Sohn eines Staatsanwaltes ins Koma geprügelt. Es gibt einen Zeugen und einen äußerst angepissten Vater, der Blut sehen will.“
Tiger stöhnte leise, konnte aber nicht verhindern, dass ein breites Grinsen über sein Gesicht zog. An den Knaben erinnerte sich immer noch gerne. Dieser Großkotz hatte doch tatsächlich die Dämlichkeit besessen, ihn einen kriminellen Wichser zu nennen, der mit Sicherheit bald im Knast landen würde. Möglicherweise würde dieser Milchbubi recht behalten. Aber für den Ausdruck in seinen Augen, als Tiger ihm die Faust ins Gesicht gepflanzt hatte, wäre es das auf jeden Fall wert.
Big Man seufzte auf seine typisch theatralische Art.
„Tiger, ich will ja nicht behaupten, dass ich dich nicht verstehe. Vermutlich hätte ich dem Kerl den Schädel eingeschlagen und die Kosten für die lebenserhaltenden Maßnahmen würden die Krankenkassen deutlich weniger belasten, aber ich will meinen besten Mann nicht im Knast haben. Es wird etwas Zeit brauchen, bis wir die Situation bereinigt haben, und bis dahin wirst du den Kopf einziehen und von der Bildfläche verschwinden. Das ist übrigens ein Befehl!“
Tiger stieß ein unwilliges Schnaufen aus, auch wenn er das Kompliment durchaus verstanden hatte.
„Du weißt, dass ich viel von dir halte, Tiger“, fuhr Big Man fort. „Ehrlich gesagt, denke ich, dass du der Einzige in unserem Verein bist, der in der Lage ist, die ganze Scheiße hier zu überblicken.“
Innerlich stimmte Tiger ihm natürlich zu, trotzdem wandte er ein: „Da sind noch Sliver und Balboa ...“
Jetzt schnaufte Big Man empört.
„Das ist nicht dein Ernst. Balboa ist ein hervorragender Kämpfer, klar, aber dumm wie Bohnenstroh. Und Sliver ist zwar schlau, aber nicht hart genug.“
„Sie sind beide Presidents und bei ihren Leuten beliebt“, konterte Tiger.
„Was nicht für die Chapter spricht“, knurrte Big Man. „Aber egal, das ist heute nicht unser Thema. Du wirst Deutschland verlassen! Keine Sorge, wir verbinden das Ärgerliche mit dem Nützlichen. Ich schlage die guten alten Vereinigten Staaten vor. Da gibt es ein paar Outlaws, mit denen ich gerne den Kontakt intensivieren möchte.“
Er listete einige Biker-Clubs auf. Von den meisten hatte Tiger noch nie etwas gehört. Die, die er kannte, weckten jedoch sein Interesse. In dem Punkt hatte Big Man recht. Eine Annäherung konnte geschäftlich durchaus von Vorteil sein.
„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich als Lonesome Rider über die Highways brettern und in Bikerhintern kriechen?“
„Besprich das mit deinen Jungs. Im Moment ist es, bis auf deine Anklage, recht ruhig hier. Die anderen MCs haben anscheinend begriffen, dass sie uns besser keinen Ärger machen.“
Tiger musste spontan grinsen. Dass ihre Konkurrenz stillhielt, war wohl hauptsächlich ihm und seinen Nomads zu verdanken. Ihm und dem politischen Geschick von Big Man.
„Grins nicht so selbstgefällig.“ Big Mans Stimme riss ihn aus seiner Erinnerung. „Verpiss dich und sieh zu, dass deine Anwesenheit in Germany in kürzester Zeit endet.“
Tiger murmelte einen leisen Fluch und verließ den Raum.
„Und bring mir gefälligst ein Souvenir mit“, klang es hinter ihm her.
„Du mich auch“, knurrte er zurück und stiefelte die Treppe hinunter in den Hauptraum.
Der Laden war rappelvoll. Überall flegelten Kuttenträger herum, viele mit einem aufgedonnerten Girl in den Armen. Tiger ignorierte das schamlose Treiben um sich herum und steuerte auf einen Ecktisch zu, an dem seine Männer hockten.
Das Nomad-Chapter.
Mit ihm zusammen sieben Mann stark und immer unterwegs. Es gab wohl kaum einen Fleck in Deutschland, den sie noch nicht angesteuert hatten, kein Clubhaus, das sie nicht kannten. Zumindest was die Häuser ihrer Verbündeten anging.
Ein Leben auf der Straße, das anstrengend aber auch aufregend war. Sie hatten es sich ausgesucht und liebten es genau so. Und es schweißte sie zusammen. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Runners grüne Augen fixierten ihn als erste, aber das war nichts Neues. Dieser verfluchte Bastard hatte zweifellos die schärfsten Sinne von allen hier im Raum.
„Tja, Nomads“, knurrte er und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. „Wir haben da ein Problem. Obwohl, eigentlich habe nur ich eines.“
Damit besaß er die geballte Aufmerksamkeit der sechs Nomads.
„Die Bullen suchen nach mir, wegen diesem Großmaul von vor drei Wochen.“
„Dem Milchbubi?“, fragte Lincoln nach. Er war erst Mitte zwanzig, also im etwa gleichen Alter wie der Staatsanwaltssohn. Ihn würde man allerdings nicht als Milchbubi bezeichnen. Seine große und breite Figur unterstrich nur seine grimmige Miene.
Tiger nickte und griff nach der halbvollen Flasche Bier vor seiner Nase.
„Yep, irgendjemand hat sich als Zeuge zur Verfügung gestellt. Der Pres will, dass ich in die Staaten gehe und da Sight Seeing betreibe. Ich soll ihm ein Souvenir mitbringen.“
Er setzte die Flasche an und leerte sie in einem Zug.
Sie starrten ihn sprachlos an. Schließlich brach Flash das Schweigen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Und was ist mit uns?