Die Zeit Constantins des Großen. Jacob Burckhardt

Die Zeit Constantins des Großen - Jacob Burckhardt


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Probus war die Insel, wie auch die gallischen Küsten, umschwärmt von Piraten, welche bald als Franken (und dann als Salier), bald als Sachsen bezeichnet werden. Gegen sie bedurfte man einer Flotte, welche in der Tat zu Boulogne (Gessoriacum) ausgerüstet wurde; den Befehl derselben vertraute Maximian dem seekundigen und tapfern, auch noch im Bagaudenkrieg erprobten Carausius an, einem Menapier (Brabanter) von dunkler, vielleicht kaum römischer Herkunft. Dieser begann bald ein sonderbares Spiel mit seiner Stellung zu treiben. Er liess die Piraten ungestört ihre Ausfahrten bewerkstelligen und fing sie erst bei der Rückkehr auf, um die ihnen abgenommene Beute für sich selbst zu behalten. Sein Reichtum erregte Aufsehen, und Maximian, der alles erfahren, hatte schon Befehl gegeben, ihn zu töten, allein Carausius wusste ihm zuvorzukommen. Durch Freigebigkeit hatte er seine Soldaten sowohl als die Franken und Sachsen selbst an sich zu ketten vermocht, so dass er noch in Gallien sich zum Kaiser aufwerfen konnte (286), doch nicht, um sich hier zu halten. Er fuhr mit der ganzen Flotte nach Britannien hinüber, wo die römischen Truppen sich sofort für ihn erklärten, so dass das ganze Land in seine Gewalt kam, während Maximian das notwendigste Mittel zu seiner Verfolgung entbehrte. Sieben Jahre lang beherrschte er die damals reiche Insel, indem er die Nordgrenze gegen die alten Feinde, die Caledonier, verteidigte; auch Boulogne mit der Umgegend behielt er als Absteigequartier und als Stützpunkt für seine Kaper bei, wie zu Ende des Mittelalters Calais diese Stelle vertrat. Als Herr Britanniens suchte er nun zwar die römische Bildung und Kunst zu erhalten, allein seinem Bündnis mit den Franken in den Niederlanden zuliebe trug er und seine Römer doch ihre Tracht und nahm ihre junge Mannschaft in sein Heer und auf seine Flotte, wo sie alle römische Kriegsübung lernen konnte. Es ist keine Frage, dass England bei einer längern Isolierung unter ihm und ähnlichen Nachfolgern barbarisiert worden wäre, ehe es die römisch-christliche Bildung, das wichtigste Erbteil des alten orbis terrarum, in sich aufnehmen und verarbeiten konnte. Von der andern Seite ist es ein imposanter Anblick um diese Insel, wie sie zum erstenmal in der Geschichte ihrer künftigen Seeherrschaft sich plötzlich bewusst wird, weil ein kühner Empörer von ihr aus die Mündungen der Seine und des Rheins beherrscht und die ganze Küste des Ozeans in Schrecken hält. – Seine Popularität konnte übrigens nur darauf beruhen, dass die Piraten, jetzt in seinem Dienst, die Küsten nicht mehr belästigten, und dass er zugleich die Nordgrenze verteidigte.

      Maximian musste eine neue Flotte rüsten (289), aber sein Versuch scheint unglücklich abgelaufen zu sein; der Usurpator hatte alle erfahrenen Seeleute bei sich. In der Besorgnis, dass derselbe seine Herrschaft noch weiter ausdehnen möchte, entschlossen sich die Kaiser (290) zur Abfindung mit ihm; er behielt die Insel und den Titel Augustus, wenigstens konnte man es nicht verhindern, dass er sich fürderhin wie bisher so nannte. Am allerwenigsten war man aber gewillt, ihm den Raub auf die Länge zu lassen. Sobald die beiden Caesaren adoptiert waren, brach man wieder mit ihm, gleichviel unter welchem Vorwand, vielleicht bei Anlass von Boulogne (293). Constantius Chlorus musste diese Stadt belagern; die carausische Flottenstation im Hafen liess sich geduldig den Eingang desselben durch einen Damm verschütten und fiel in die Hände des Belagerers Panegyr. V (Eumen. Constantio), c. 6, wo Dinge mit Stillschweigen übergangen sind, ohne welche man diese Kriegstat unmöglich beurteilen kann.. Vielleicht war es der Rückschlag dieses Ereignisses auf die Stimmung Englands, welcher einem vertrauten Gefährten des Usurpators, Allectus, den Mut zu dessen Ermordung gab, worauf Volk und Soldaten ihn ohne weiteres anerkannten. Jetzt nahm sich Constantius die Müsse, für die künftige Eroberung Britanniens eine weite, zuverlässige Basis vorzubereiten und sich vor allem die rechte Flanke zu sichern durch Unterwerfung derjenigen Franken, welche das Bataverland besetzt hielten. Er schlug sie (294) und verpflanzte einen grossen Teil in das römische Gebiet, um Trier und Luxemburg. Zugleich wurde eine neue Flotte gerüstet, und zwei Jahre später (296) war alles bereit zum Hauptangriff. Allectus hatte eine Beobachtungsflotte bei der Insel Wight aufgestellt, aber der kaiserliche Admiral Asclepiodotus, der am Seineausfluss unter Segel gegangen war, konnte unter dem Schutz eines dichten Nebels glücklich an derselben vorbeikommen und irgendwo an der Westküste landen, wo er sofort seine Schiffe hinter sich verbrannte, wahrscheinlich, weil seine Mannschaft zu gering war, um sie in ein Angriffsheer und in ein Schutzkorps für die Flotte zu teilen. Allectus, der den Hauptangriff des Constantius mit der Boulogner Flotte in der Gegend von London hatte erwarten wollen, verlor die Haltung, indem er sich nun unvorbereitet nach dem Westen werfen musste, wo er den Asclepiodotus unterwegs traf. Ein vielleicht ganz unbedeutendes Treffen zwischen ein paar tausend Mann, in welchem Allectus fiel, entschied das Schicksal Englands, so dass Constantius bei seiner Landung in Kent bereits allgemeine Unterwerfung vorfand. Der Lobredner tröstet sich über das in diesem Krieg geflossene Blut damit, dass es nur das Blut gemieteter Barbaren gewesen sei.

      Constantius musste der Insel dieselben Vorteile zu gewähren suchen, die sie unter Carausius genossen: hauptsächlich den Schutz nach aussen und dann die öftere Residenz. Ersteres wurde ihm bei der jetzigen Demütigung der Franken nicht schwer; in letzterer Beziehung teilte er sich bei ruhigen Zeiten zwischen Trier und York, wo er auch starb (306).

      So war denn die sehr bedeutende römische Kultur gerettet, welche damals zwischen England und dem jenseits des Hadrianswalles gelegenen Schottland, dem jenseits der Meerenge liegenden Irland einen so bedeutenden, bis auf den heutigen Tag fühlbaren Unterschied machte. Die Schicksale des fünften Jahrhunderts kamen zu spät, um ihre mächtigen Spuren gänzlich zu zerstören.

      Unsere Aufgabe wäre nun vor allem, den damaligen Zustand der Germanen zu schildern, nicht nur an den Reichsgrenzen, sondern soweit in den Norden und Osten sie sich überhaupt verfolgen lassen. Als künftige Erben des Reiches verdienten sie die genaueste Betrachtung, auch wenn zufällig die Zeit Constantins für sie eine Zeit des Zurückschreitens und der innern Zerrüttung gewesen sein sollte; selbst die flüchtigsten Notizen und Andeutungen müssten uns von grösstem Werte sein, um das ewig verschwimmende, zerrissene Bild jener grossen Völkertafel, soweit es irgend möglich, herzustellen.

      Allein der Mut zu dieser Arbeit entsinkt dem Verfasser, angesichts einer seit vielen Jahren erhobenen wissenschaftlichen Diskussion über die grössten Hauptfragen der alten germanischen Geschichte, in welche er auf keine Weise berufen ist hineinzureden. Die Resultate von Jakob Grimms »Geschichte der deutschen Sprache« würden nämlich nicht bloss die bis jetzt geltenden Annahmen über die Westgermanen mannigfach umgestalten, sondern auch die alten Donau- und Pontus-Völker, vor allem die Dacier und Geten, selbst die Scythen dem deutschen Stamm in näherm oder entfernterm Grade zuweisen, und insbesondere die Geten mit den spätern Goten identifizieren. Damit würde die ganze bisherige Ansicht über Macht und Ausdehnung der Germanen verändert und nicht minder die Urgeschichte der Slaven umgewandelt, welche als die Sarmaten des Altertums zwischen und unter jenen Germanenvölkern wohnend zu denken wären.

      Wenn wir aber auch für das halbe Jahrhundert von Diocletian bis zum Tode Constantins die Sitze, Wanderungen und Mischungen wenigstens der Grenzvölker von den Niederlanden bis ans Schwarze Meer genau nachweisen könnten, so blieben doch als grosses Rätsel die innern Zustände übrig. Wer gibt uns Kunde von der Gärung und Neugestaltung des germanischen Wesens seit den Zeiten des Tacitus? Von den Ursachen der grossen Völkerbünde? Von dem plötzlichen Eroberungsdrang der Pontus-Goten im dritten Jahrhundert? Von ihrem nicht minder auffallenden Stillesitzen Die Ausnahme s. unten, S. 119f. in der ersten Hälfte des vierten? Wer leiht uns einen Maßstab für das weitere oder geringere Eindringen römischer Sitte in den germanischen Grenzländern? Ja, selbst von Sitte und Zustand der ins römische Reich aufgenommenen Germanen, sowohl der Soldaten als der Kolonen ist uns wenig bekannt. – So mag es denn auch genügen, wie oben die Kämpfe an der Rheingrenze, so auch die übrigen Kriege am Nordsaum des Reiches nur kurz zu erwähnen. Eine grosse Bedeutung können die letztern, nach der Einsilbigkeit der Quellen Die Stellen gesammelt u. a. bei Manso, Leben Constantins, und bei Clinton, Fasti Rom., passim. Vgl. auch Ammian. Marc. XXVIII, 1. zu schliessen, ohnedies kaum gehabt haben; fast alle Nebenumstände, sogar Ort und Stelle, bleiben völlig dunkel.

      »Die Markomannen wurden aufs Haupt geschlagen« – so lautet die für lange Zeit einzige Notiz über jenes Volk (299), welches unter Marc Aurel als Zentrum eines grossen Bundes das Römerreich mit Untergang bedroht hatte.


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