Der dritte Versuch Magische Wesen. Norbert Wibben
jetzt hinter ihm stehen oder gerade zu entkommen versuchen? Doch der ist nicht zu sehen, und es ist auch nicht das geringste Geräusch zu hören! Aufgeregt lässt er die Kanne fallen. Die Tonschale zerspringt daneben in viele kleine Stücke, während der Mann hastig den Raum verlässt. Er rennt den Gang entlang, bis er in den Turm kommt. Was soll er jetzt machen? Obwohl er das nicht glaubt, könnte der Gefangene aus der Zelle entkommen sein und unten auf ihn lauern. Die Tür hat er doch abgeschlossen, oder sollte er das …? Nein, er ist sich sicher. Er macht das jeden Tag auf die gleiche Weise und hat garantiert abgeschlossen. Dann wird der Flüchtige dort nicht entkommen. Als er soweit in seinen Überlegungen ist, folgt er der Wendeltreppe vorsichtig nach oben. Der Entflohene könnte ja ganz clever sein und sich dort verstecken. Möglicherweise hofft er, dass in der Aufregung das Tor unten offengelassen wird, wenn Hilfe herbeigeholt wird. Dann könnte er die Gelegenheit nutzen, um zu entkommen. Der Aufseher erreicht das Ende der Treppe unter einer Falltür, er öffnet sie und steckt vorsichtig den Kopf durch die Öffnung. Schnell verschafft er sich die Gewissheit, dass der Ausbrecher nicht hier ist. Also klettert er jetzt durch die Luke und steht auf einer Plattform, die nur von einer niedrigen, umlaufenden Mauer umgeben ist und von einem Dach auf steinernen Säulen gegen Regen geschützt wird. Das Gekreische und Schreien der Meeresvögel ist überwältigend. Der Wärter nimmt das Signalhorn, das an der Mittelsäule hängt, setzt es an seine Lippen und bläst das Alarmsignal. Er pustet dreimal hinein, wobei er die Öffnung des Horns nacheinander in Richtung Innenhof, mittleren Turm und Wachstube richtet. Es dauert keinen Atemzug, bis er erschrocken herumfährt. Connor erscheint aus einem Gleißen der Luft auf der Plattform.
»Warum bläst du das Alarmhorn. Werden wir angegriffen?« Unter seinem forschenden Blick beginnt der Wächter zu zittern, schüttelt den Kopf und versucht Worte zu formen. Da das natürlich misslingt, senkt er seinen Blick.
»Willst du darauf hinweisen, dass einer der Gefangenen entflohen ist?« Der Dubharan atmet die Luft hörbar ein. »Wie sollte das möglich sein. Wenn du unaufmerksam oder nachlässig gewesen sein solltest, werde ich dich bestrafen. Dann wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.« Connor blickt den Mann drohend und mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Seine dunklen Augen schleudern Blitze, als er ihn am Arm fasst. Im nächsten Augenblick stehen sie in dem Gang mit den Gefängniszellen. »Wo?«, fragt der Zauberer und gibt den anderen frei. Dieser macht einen Schritt in die Richtung der Zelle, wird jedoch sofort an die Seite gestoßen. Mit »Solus« lässt der Magier eine helle Lichtkugel erscheinen und untersucht den Raum. »Warum liegen hier Tonscherben? Wurden sie etwa benutzt, um die Handschellen zu zerstören? Hm. Nein. Sie zeigen keinerlei Silberabrieb. Aber wie hat der Gefangene dann entkommen können?« Er erhebt sich grübelnd. »Wurde er mittlerweile vernommen? Was ist? Du schüttelst den Kopf? Ach, das hatte ich vergessen. Du kannst ja nicht reden!« Er grinst den Mann an. Die nächsten Gedanken äußert er nicht laut. »Ich werde den Offizier der Wache fragen, oder sollte ich besser Dean darauf ansetzen? Ja. Er soll dafür sorgen, dass der junge Elf wieder in unsere Gewalt kommt. Er ist ein wichtiges Faustpfand, damit sich die Mittelelfen nicht gegen uns stellen!«
Im nächsten Moment flirrt die Luft. Der Wächter steht allein in der Zelle.
Ein Urteil
Es ist am Abend des Alarms in Munegard. Connor hat alle Zauberer des Mondes zusammengerufen. Dean berichtet von seiner vergeblichen Suche nach dem Entflohenen. Unruhe liegt in der Luft und Stühle werden hin und her gerückt. Einige der Anwesenden stellen Fragen und geben unverblümt ihrem Unmut Ausdruck.
»Warum wurde dieser junge Mann gefangengenommen? Ziehen wir mit derartigen Aktionen nicht unnötig die Aufmerksamkeit unserer Gegner auf uns?«
»Ist der Entflohene nun ein Mensch oder ein Elf?«
»Das ist doch wohl egal, jedenfalls muss er zaubern können.«
»Das stimmt nicht, der Gefängniswärter kann ihm ja geholfen haben.«
»Wer ist für diese Schlamperei verantwortlich? Wenn wir derart nachlässig agieren, werden wir niemals die Herrschaft übernehmen.«
»Weshalb lagen die Kleidungsstücke des Geflohenen in der Zelle? Kann das wenigstens jemand erklären? Er wird nicht nackt geflohen sein, oder?«
»Gibt es hier noch mehr Gefangene und werden die besser bewacht?«
»Warum werden wir erst jetzt über die Vorgänge informiert?«
»Sind wir keine gleichberechtigten Zauberer?« Völlig gelassen und ohne sich einzumischen, lauscht Connor bisher den Äußerungen. Doch allmählich wird es ihm zu bunt.
»Alle mal herhören«, erklingt seine gefährlich leise Stimme. Sofort verstummen die anderen. Es ist so, als ob der Magier Eiswasser über sie gegossen hätte. Sie frösteln auf einmal und Schauer laufen ihnen den Rücken hinab. Der unumstrittene Anführer nickt einem Diener zu, der wartend an der einzigen Tür des Versammlungsortes steht. Daraufhin verlässt dieser kurz den Raum und bringt dann den Gefängniswärter herein. Der Mann ist mehrere Stunden von Dean verhört worden, wobei der Zauberer in dessen Geist eindrang, da er ja nicht zu reden vermag. Entsprechend jämmerlich sieht der Wärter aus. Die Hände sind ihm mit einem groben Seil auf dem Rücken zusammengebunden. Er hält den Kopf gesenkt und zittert. Ob er ahnt, was ihm droht? Er folgt der Aufforderung des Dieners, der ihm einen Stoß versetzt und mit ausgestrecktem Arm in die Mitte der Versammlung deutet. Der Diener kehrt um und stellt sich breitbeinig vor die Tür. Die Augen des Wärters huschen durch den Raum. Was erwartet ihn hier? Eine Fluchtmöglichkeit gibt es für ihn nicht, also rafft er sich zusammen, bewegt sich schlurfend vorwärts und steht dann starr und verängstigt in der Mitte. Ringsumher herrscht Schweigen, nicht einmal ein Hüsteln ist zu vernehmen.
»Das ist der Mann, dem der Gefangene entkommen konnte!« Die Stimme Connors ist eisig. »Schaut ihn euch genau an. Könnt ihr euch vorstellen, dass er einem seiner Obhut übergebenen Gefangenen zur Flucht verhelfen würde, wenn er weiß, welche Strafe ihm droht?« Der gefesselte Mann wagt es, einen Blick in die Runde zu werfen. Steht er hier vor Gericht? Wie kann er sich verteidigen? Seine Lippen bewegen sich, doch außer einigen unartikulierten Lauten vermag er nichts hervorzubringen.
»Ob vorstellbar oder nicht«, ist eine erste Stimme zu hören, »warum versucht er nicht, sich zu verteidigen?«
»Der sieht für mich schuldig aus«, wird die nächste Meinung geäußert.
»Warum hat er ausgerechnet diesem Gefangenen zur Flucht verholfen?«, fragt jetzt Dean. »Es gibt noch zwei weitere Gefangene, die in ihren Zellen angekettet sind. Wenn dieser Elende mit der Befreiung eines ihm Anvertrauten sein Leben verwirkt, warum sollte er den anderen nicht auch helfen?«
»Wer sind die anderen? Wurden sie gemeinsam gefangen und eingesperrt?«
»Ist der Flüchtige möglicherweise ein Bekannter des Wächters? Könnte das ein Grund sein?« Der Zauberer, der das sagt, strahlt über das ganze Gesicht. Er ist sicher, eine gute Idee geäußert zu haben.
»Hältst du uns für blöd?«, begehrt Dean sofort auf, wird aber von Connor mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht, bevor er fortfahren kann.
»Das ist wirklich mal ein kluger Einfall, mein Freund Grimur. Du hast mit deinem Scharfsinn blitzschnell erkannt, worauf es bei der Bewachung eines Gefangenen ankommt.« Der oberste Dubharan blickt sich um. Bemerken die anderen Magier seine Ironie? Er ist sicher, einige werden es. »Da du diesen Geistesblitz nicht nur hattest, sondern uns auch daran teilhaben lassen hast, übertrage ich dir ein sehr wichtiges Amt. Kannst du dir vorstellen, welches das ist?« Connor schaut den Zauberer auffordernd an. Er weiß, Grimur hat den Entflohenen ursprünglich von den Häschern übernommen und hergebracht. Selbst bei derartigen Aufgaben, deren Erledigung keine große Intelligenz erfordert, war dieser Zauberer oft derart dumm vorgegangen, dass die ihm Anvertrauten schon des Öfteren entkommen konnten. Das hat Connor nicht vergessen. Jetzt strahlt Grimur erwartungsvoll. »Du übernimmst ab sofort die wichtige Aufgabe des Gefängnisaufsehers. Uns darf keinesfalls einer der verbliebenen Gefangenen entkommen. Ich hoffe, du hast mich verstanden!« Den letzten Satz hat