Der dritte Versuch Magische Wesen. Norbert Wibben
Blätter sehen denen im Frühjahr ähnlich. Der Waldboden ist übersät mit Buschwindröschen und Leberblümchen. Er weiß, dass es in diesem Wald immer so aussieht, trotzdem fühlt er sich bei diesem Anblick wie verjüngt. Er will bereits mit federnden Schritten dem vor ihm liegenden Pfad folgen, als er rechtzeitig an die hier versteckten Wächter denkt. Sie würden jeden unbefugt eindringenden Fremden töten, doch er ist eigentlich kein Unbekannter, also bestünde für ihn die Gefahr vermutlich nicht. Das bestätigt sich auch sofort. Ein grün gekleideter, junger Elf tritt aus seinem Versteck hervor. Sein langes, hellblondes Haar wird mit einem grünen Stirnband um den Kopf fixiert. Den Bogen trägt er locker in der Hand, ein Pfeil ist nicht aufgelegt. Das ist ein Zeichen dafür, dass ihn die Wächter, es sind stets fünf von ihnen hier versteckt, als Freund erkannt haben.
»Ich grüße dich, Cian!« Die Stimme klingt freundlich, auch wenn das Gesicht streng wirkt. »Du darfst passieren!«
»Ähem. Ich grüße dich auch und Danke.« Der alte Elf wundert sich nicht, wie schnell der Wächter wieder verschwunden ist, ohne dabei ein Geräusch zu machen. Schließlich sind die Wachen der erste Schutz des geheimen Waldes der Nordelfen, die jeden Ankömmling empfangen und wenn nötig zurückweisen oder auch töten.
Cian überlegt, ob er durch diesen Frühlingswald wandern oder mittels magischem Sprung direkt in die Bibliothek in Serengard wechseln soll. Es riecht hier verlockend nach Frühling, doch dann entscheidet er sich für die schnellere Variante. Er wurde ja gebeten, herzukommen, da Kayleigh offenbar dringend seinen Rat benötigt. Den Spaziergang kann er auch noch im Anschluss machen. Die Luft flirrt und im gleichen Moment steht er in der Bibliothek der Elfenfestung. Er weiß, dass die Oberste der Nordelfen ihn in diesem Raum, wo ihr Lieblingsaufenthalt ist, erwartet.
»Sei gegrüßt, Kayleigh. Du hast mich gerufen, hier bin ich!« Der Elf macht dabei eine leichte Verbeugung und wird durch ein glockenhelles Lachen empfangen.
»Mein lieber Freund. Ich danke dir für dein schnelles Erscheinen!« Auch sie macht eine leichte Verbeugung und deutet anschließend auf die bequemen Sessel, die vor einem Kamin stehen, in dem ein lustiges Feuer prasselt.
»Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Einen Tee vielleicht?«
»Ja, danke, den nehme ich gern.« Er hat das kaum gesagt, da stehen auch schon zwei Tontassen auf dem kleinen Tischchen zwischen ihnen. Aus ihnen steigen Dampf und prickelndes Pfefferminzaroma auf. Cian weiß, sie werden zuerst einige Schlucke des noch heißen Tees trinken, bevor Kayleigh auf den eigentlichen Grund zu sprechen kommt, weshalb sie ihn gerufen hat. Beide mustern sich aufmerksam. Bei der Begrüßung hielt die Elfe ihre schlanke Gestalt kerzengerade, genauso wie jetzt im Sitzen ihren Oberkörper. Das ist ein Ausdruck jahrzehntelanger Disziplin, mit der sie ihre Aufgabe als oberste Elfe wahrgenommen hat. Ihr Gesicht, auf deren Stirn ein Sonnensymbol erkennbar ist, ist trotz ihres Alters unverändert schön. Das Symbol kennzeichnet sie als eine der oberen Drei aller Zauberer, zu denen Cian einst auch gehörte. Ihre Haare sind wie seine mittlerweile silbrig glänzend, obwohl ihre noch einen leicht goldenen Schimmer zeigen. Beide seufzen kurz, während ihre Gedanken nach kurzem Verweilen in der langen, gemeinsamen Vergangenheit ins Jetzt zurückkehren. Sie greifen zu den Trinkgefäßen, pusten darüber und nehmen die ersten, vorsichtigen Schlucke.
»Wir steuern auf eine neue Auseinandersetzung mit den Dubharan zu«, beginnt Kayleigh. »An vielen Orten im Land sind die Menschen unzufrieden. Das provozieren die dunklen Magier geschickt. In den letzten beiden Jahren gab es Ernteausfälle, die durch Notrationen aus den Vorratslagern nicht ausgeglichen werden konnten. Die Missernten sind nur zum Teil durch äußere Umstände erklärbar. Es gab im vorigen Frühjahr unüblich lange Frostperioden, die die Obsterträge beeinträchtigten und im letzten Sommer zu viel Regen, wodurch Getreide an den Halmen verfaulte. Viele der restlichen Felder gerieten in Brand, dessen Ursache nie gefunden wurde. Das Vieh litt im gleichen Maße unter der Nahrungsverknappung, selbst die reinen Viehweiden lieferten kaum Futter für sie. Die Tiere wurden an manchen Orten notgeschlachtet, wobei sie meist nicht einmal die Hälfte des sonst üblichen Gewichts erreichten.«
»Das habe ich in meinem Turm im Osten nicht mitbekommen. Ist es wirklich so schlimm?«
»Es ist so schlimm. Ich vermute, die Wetterkapriolen wurden und werden durch die Dubharan verursacht, genauso wie die unerklärlichen Brände. Gleichzeitig sammeln sie überall im Land Verbündete, vornehmlich aber im Süden und Westen. Der Norden, die Mitte und der Osten sind bisher unauffällig.«
»Was meinst du mit unauffällig?«
»Deshalb habe ich dich hergebeten. Im Westen und im Süden gibt es immer wieder Überfälle auf Städte, Dörfer und einsame Ansiedlungen. Die zuständigen Regionalherren, Bürgermeister und Fürsten, haben die Übeltäter bisher nicht ermitteln können. Die Angreifer entkamen jedes Mal, ohne dass die Verfolger aufklären konnten, wohin. Sie folgten den Spuren der Pferde, die sich stets im unwegsamen Gelände verloren. Ich habe die wenigen Elfen, die dort wohnen, um Hilfe gebeten. Sie sollen aufmerksam die Gebiete beobachten und notfalls Meldung machen, damit die Ostelfen oder wir aus dem Norden eingreifen können, um den Menschen zu helfen. Gleiches habe ich unseren Völkern in der Mitte und im Osten empfohlen. Hast du einen Vorschlag, was wir darüber hinaus unternehmen können?«
»Das sind gute Maßnahmen. Von mir möchtest du sicher, dass ich die Region um die alte Königsburg im Auge behalte. Da ich nicht mehr so wie früher als einer der oberen Drei zu unseren verschiedenen Völkern reise, auf der Suche nach talentierten Schülern, halte ich mich mittlerweile fast ständig in meinem Turm auf. Was wir sonst unternehmen könnten, wenn wir keinen offenen Kampf mit den Dubharan beginnen wollen, weiß ich nicht. Möglicherweise Späher in die bereits auffälligen Regionen schicken? Aber das hast du sicher schon veranlasst.«
»Es wäre fahrlässig von mir, das nicht anzuordnen. Trotzdem danke ich dir für deinen Rat. – Was gibt es bei dir für Neuigkeiten? Wir haben uns ja schon mehrere Jahre nicht mehr gesehen. Ich glaube, fast so lange, wie du dich zurückgezogen hast.«
»Das stimmt. Wir sahen uns bei den verschiedenen Zauberertreffen meist nur kurz, so dass das nicht zählt. Ich habe, was du daher nicht weißt, vor zwei Jahren wieder einen Schüler akzeptiert.« Auf eine Reaktion seiner Freundin wartend, schaut er sie an. Aber sie lächelt nur. »Was ist? Du äußerst dich nicht dazu? – Ja, ich weiß, ich bin nicht mehr der Jüngste, eigentlich bin ich zu alt dafür, aber wenn du diesen Jungen kennen würdest, könntest du mich vielleicht verstehen.«
»Ich stimme dir zu, dass du, genau wie ich, sehr alt bist. Ich finde aber nicht, dass das ein Grund ist, weshalb du keinen Schüler annehmen solltest. Du bist in meinen Augen der beste und geeignetste … Nein, unterbrich mich nicht. Ich will dir nicht schmeicheln, das ist die reine Wahrheit! Aber gut, dann lasse ich die Lobeshymnen. Jetzt sag mir schon, wer dich dazu überreden konnte. Ist es ein sehr talentierter Zauberer der Menschen oder einer der Elfen?«
»Es ist Finn, ein junger Elf aus der Mitte des Landes. Sein Onkel ist von mir ausgebildet worden, starb jedoch bei der letzten großen Auseinandersetzung mit den Dubharan.«
»Oh. Das freut mich. Du kennst also Finns Großeltern, konnten sie dich dazu überreden? Ach nein, die sind ja vor fast drei Jahren gestorben. Warum schaust du mich so erstaunt an, was ist los?«
»Der Junge hat mich eigentlich an mich selbst erinnert, als wir uns bei dem Zauberertreffen vor zwei Jahren begegneten. Außerdem schien er sehr traurig zu sein und stellte mir die Sinnfrage des Lebens. Ich glaube, diese Nachdenklichkeit hat mich verleitet, ihn anzunehmen. Obendrein hat er …, aber das ist nicht so wichtig. Den Namen seines Onkels oder der Großeltern nannte er nicht, auch nicht, dass diese ebenfalls gestorben sind. Es hörte sich so an, als ob sie ihn erzogen hätten. Wer waren sie? Du scheinst sie zu kennen.«
»Der Großvater war der letzte Obere der Elfen der Mitte. Er besaß große magische Kräfte, genau wie seine beiden Söhne. Der eine starb, wie du schon sagtest, vor etwa zwanzig Jahren, der andere heiratete eine sehr begabte Elfe aus dem Osten. Seit diesem Konflikt mit den Dubharan waren Finns Eltern ständig im Land unterwegs, stets auf der Suche nach Vergeltung an den dunklen Zauberern, während der junge Elf bei den Großeltern blieb. Seit etwa fünf Jahren sind seine Eltern verschwunden, niemand weiß, was ihnen möglicherweise