Novemberzauber 1989. Inga Droemer

Novemberzauber 1989 - Inga Droemer


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Urlaubsplatz.

      Ich liebte den Urlaub an der Ostsee, er war so unkompliziert, ein Zigeunerleben ohne jeglichen Luxus und Manieren, einfach einfach. Unser grauer, unscheinbarer Campingwagen stand zwischen den anderen mitten im rauschenden Kiefernwald, nur 100 Meter von den Dünen entfernt. Wir konnten vor dem Zelt gemeinsam unsere Mahlzeiten einnehmen, uns mit den Kindern beschäftigen und uns als Familie genügen. Das Wetter spielte mit, war traumhaft schön, wie in jedem Jahr. Wir besaßen weder Fernseher noch Radio, geschweige noch ein Telefon, waren zeitlos und ahnungslos. Ja wir waren im Tal der Ahnungslosen angekommen und das war wunderbar, nicht funktionieren, nicht strukturieren, organisieren oder planen zu müssen, wir ließen einfach mal alle Viere gerade sein.

      Nach der morgendlichen Katzenwäsche im Freien, dem Zähneputzen vor dem Zelt und dem Frühstück an der frischen Luft spazierten wir beizeiten im Gänsemarsch beladen mit bunten Spielsachen, diversen Handtüchern und Bademänteln, Luftmatratze, Eimern, Schippen, Getränken, Äpfeln und Kohlrabi, belegten Brötchen, Keksen, Bonbon und Sonnencreme die Dünen hinauf zum Strand bis zu unserem Strandkorb und am späten Nachmittag marschierten wir geschwächt von der Hitze durch den heißen Ostseesand genauso beladen zurück. Zwischendurch baute mein Mann meist mit den Großen eine Kleckerburg oder schleppte mit dem Eimerchen das Ostseewasser ganz vorsichtig bis zu unserem Strandkorb, um nicht zu viel davon zu verschütten, damit das Jüngste mit seinen Förmchen Sandkuchen backen konnte.

      Unsere braun gebrannten fröhlichen Kinder fühlten sich pudelwohl in ihrer Haut, tummelten sich zwischen den anderen Urlaubern und dessen Nachwuchs und flitzten nackig hin und her. Wir dachten uns nichts dabei. Auf solche Ideen wie heute, dass kleine Kinder Lustobjekte sein könnten, kamen wir nicht, dazu waren wir im Osten viel zu rein, naiv und unverdorben. Und so ein Zündstoff wurde damals durch die Medien zum Glück nicht geschürt. Wir waren noch heil zu dieser Zeit.

      Doch zurück zu meiner Geschichte.

      Ich lag besonders gern auf meiner Decke vor dem Strandkorb im warmen Sand und ließ mir die Sonne auf meinen Bauch scheinen, drehte mich wie ein Schnitzel von einer Seite auf die andere, beobachtete das Treiben aus dieser Position heraus und versorgte meine Familie mit allem, was wir am frühen morgen mitgenommen hatten und was ihre kleinen Herzchen begehrten.

      Einer der Kinder wollte beim nachhause gehen immer getragen werden, meistens das Jüngste, stellte sich nörgelnd vor Papa, sah ihn bittend an und drängelte ununterbrochen: „Hoch, hoch!“ Er hatte eigentlich schon genug zum Tragen, schob sich selber durch die abendliche Hitze, aber im Nu stellte er alles ab, hievte den „Quälgeist“ auf seine Schulter, bückte sich nochmals nach all den Dingen und schnaufte die Dünen hinauf bis zu unserem Campingwagen.

      Am Abend kochte ich meistens irgendetwas Einfaches auf unserem zweiflammigen, primitiven Gaskocher im Vorzelt. Entweder gab es Quark und Leinöl mit Pellkartoffeln, oder Pellkartoffeln mit Hering, Eierplinse, Nudeln mit Tomatensoße, Milchreis oder belegte Stullen mit Gurke und Tomate. Es war so leicht zu

      handhaben, unkompliziert und ohne jegliche Erwartungshaltung. Mit Liebe ging alles!

      Schon nach dem Abendessen wären unsere drei Lieblinge am Tisch fast eingeschlafen. Den ganzen Tag draußen an der frischen Luft, das machte sie müde. Sie schliefen tief und fest zu dritt in dem winzigen Bastei-Wohnwagen in der Größe eines Bettlakens und mein Mann und ich kurze Zeit später auf quietschenden Campingliegen zum Ausklappen im Vorzelt, direkt neben dem summenden Kühlschrank und dem Gaskocher und dem Holzregal mit Vorhang, hinter dem diverse Kochtöpfe standen. Wir lebten auf engstem Raum zusammen, aber nichts und niemand engte uns ein.

      Bis zum Schlafengehen saßen wir jeden Abend bei Kerzenschein vor unserer Behausung, behüteten den Schlaf unserer Kinder und wachten über sie, erzählten miteinander, bestaunten den Sternenhimmel und lauschten dem Rauschen der Kiefern. Es war so ruhig ohne Radio und ohne Fernseher, so romantisch, wir waren glücklich und frei, konnten in den zwei Wochen faulenzen und uns mit dem Wenigen zufrieden geben.

      Am nächstem Morgen, nach dem frühzeitigen Erwachen unserer süßen Rabauken, begannen wir den neuen Tag mit ganz viel Drücken, Kuscheln und Erzählen, während mein Mann in dieser Zeit pflichtbewusst die Brötchen für seine Familie holte. Gemeinsam nahmen wir zufrieden und ausgeruht unser Frühstück ein, bei herrlichstem Wetter, azurblauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Ein Schlaraffenland hatte sich für uns aufgetan an vierzehn unvergessenen, losgelösten Tagen an unserer geliebten Ostsee.

      Wir geraten heute noch ins Schwärmen, wenn wir an die gemeinsamen, einfachen Urlaube mit unseren Kindern denken.

      Als wir nach diesen zwei Wochen freudestrahlend zu Hause ankamen, wurden wir gar nicht mehr erwartet, im Gegenteil. Unsere Freunde staunten, hatten geglaubt, wir wären auch in den Westen abgehauen, wie so viele andere.

      Was? Davon hatten wir bis dahin noch gar nichts mitbekommen? Abhauen? In den Westen? Kurz, aber nur ganz kurz, sprang bei jedem von uns das Kopfkino an und es kamen doch gewisse Gedanken hoch. Aber ging es uns denn so schlecht in unserem Land, um die Heimat, meine liebe Oma Martha und unsere Mutter zu verlassen? Nein, das konnten wir den Beiden nicht antun, dazu war ich viel zu pflichtbewusst und in der Verantwortung für die Beiden. Und gerade waren wir in unser halbfertiges Haus eingezogen und jetzt sollten wir alle Lieben und alles uns Wichtige, unser ganzes bisheriges Leben, im Stich lassen? Niemals!

      Aber es lag seit diesen Sommerferien irgendetwas in der Luft, es knisterte und brodelte an allen Ecken und Enden. Bange Fragen stellten sich die Menschen in der DDR zu dieser aufregenden Zeit im Sommer 89, tuschelten hinter vorgehaltener Hand und machten sich so ihre Gedanken. Nicht fremde, nein bekannte, vertraute Gesichter waren plötzlich aus dem Stadtbild verschwunden, kehrten nach Wochen nicht mehr von ihrem Urlaub in Ungarn zurück nach Hause. Leise Vorahnungen bewahrheiteten sich fast ohnmächtig! Sie zählten zu den Tausenden von Flüchtlingen, die gemeinsam mit anderen Landsleuten diese Chance nutzten und über die offenen Grenzen von Ungarn nach Österreich in den Westen geflohen waren, überdrüssig ihrem Leben in der DDR.

      Schon vor Antritt ihrer Urlaubsreise planten sie heimlich die Flucht, doch niemand durfte ihnen im Vorfeld ihr waghalsiges Unterfangen anmerken. Sie kehrten ihrer Heimat, ihren Familien und Freunden für immer den Rücken zu, ohne zu wissen, was sie erwarten und für sie auf dem Spiel stehen würde, ob sie womöglich ihr Leben und das ihrer Familien riskierten. Aber am schlimmsten plagte sie ihr schlechtes Gewissen und die allergrößte Angst, ihre Lieben daheim niemals mehr wiederzusehen.

      Dabei war die Reisefreiheit zu dieser Zeit schon gelockert worden. Verwandte aus dem Osten konnten ihre Angehörigen im Westen besuchen, aber wie viele von ihnen blieben für immer dort und ließen ihre Familien zurück. Und die, die wieder kamen, sangen ein wunderbares Loblied nach dem anderen auf den goldenen Westen, schürten ein loderndes Feuer in der Bevölkerung mit ihren Lobeshymnen, ihren paradiesischen Erzählungen aus einer makellosen Märchenwelt, nach denen wir uns im Osten so sehr sehnten. Wir hätten nichts anderes hören wollen, waren in einer idyllischen Scheinwelt, wenn es um den goldenen Westen ging.

      Die Nacht der Nächte-Der 09. November 1989

      Ich hatte zu tun, wie jeden Morgen, meinen drei Kindern das Frühstück zu bereiten, die Schulstullen zu schmieren und pünktlich bei diesem trüben Herbstwetter aus dem Haus zu kommen. Meine beiden Großen gingen ja schon allein zur Schule, nur den Kleinen musste ich mit meinem Fahrrad noch in den Kindergarten bringen. Meine Arbeit begann jeden Morgen pünktlich um sieben, aber schon die erste Kundin hatte mich versetzt und kam nicht zum bestellten Termin.

      Aber das war nicht weiter schlimm, die Arbeit schien an diesem Tag sowieso nicht im Vordergrund zu stehen, jeder spürte, das etwas geschehen würde, doch niemand konnte zu dieser frühen Morgenstunde etwas von dem erahnen, was am Abend verkündet werden würde. Ich saß auf meiner Arbeit bewegungslos vor dem Radio und verfolgten gespannt jedes einzelne Wort in den Nachrichten. Sie klangen anders als sonst, von freien Wahlen und Veränderungen war die Rede, immer und immer wieder, von bevorstehenden Erleichterungen bei der Reisefreiheit von Ost nach West. Unbegreiflich schienen die Meldungen der Reporter zu sein, die sich im Minutentakt überschlugen,


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