Novemberzauber 1989. Inga Droemer

Novemberzauber 1989 - Inga Droemer


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satt sehen und satt hören an den Nachrichten. Und plötzlich verkündete Günter Schabowski in den Nachrichten beiläufig fragwürdig, dass die DDR mit sofortiger Wirkung ihre Grenzen öffnete, so dass die Mauer über Nacht durchlässig werden würde. Was? Unsere Freude war grenzenlos, aufgekratzt liefen wir, mein Mann und ich, hinaus auf die Straße in die Arme der Anderen, unseren Freunden, teilten tränenschwer dieses kaum zu glaubende Freiheitsgefühl, unsere unsagbar, nicht zu begreifende, tief empfundene und einmalige Freude über diesen Zauber.

      Der 09. November 1989, ein Wintermärchen? Ein Traum? Nein! Ein Wunder! In Frieden war es gelungen, die beiden deutschen Staaten nach fast dreißig Jahren innerdeutscher Teilung wieder zu einem vereinten Deutschland zusammen wachsen zu lassen. Die Grenzen waren geöffnet. Wer das nicht glauben wollte, brauchte nur in die aufgewühlten, strahlenden Gesichter der Menschen zu schauen. Es begann eine neue Zeit, die Wendezeit.

      Zeit der neuen Erfahrungen-DieWendezeit

      Nach dem Fall der Mauer hatten sich Millionen DDR-Bürger sofort auf den Weg gemacht, um sich ihre 100 DM Begrüßungsgeld pro Person von den Banken im Westteil abzuholen. Wie im Rausch waren sie nach dem blauen Geldschein hinterher, standen stundenlang Schlange vor den Auszahlungsstellen, waren überdreht vor Angst, es könnte sich nur um einen Bluff handeln. Manche Eltern nahmen ihre Kinder sogar am Samstag aus der Schule, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen, oder fuhren bis nach Bayern, dort gab es zusätzlich noch 40 DM extra pro Kopf. Die meisten von ihnen gaben ihr Geld jedoch gleich wieder aus, in der Stadt, in der sie ihr Begrüßungsgeld bekommen hatte, entweder für die ersehnte erste Levis, für Schokolade, Seife, Matchbox-Autos und Babypuppen oder sammelten es in der Familie, um sich davon einen der neuesten Farbfernseher kaufen zu können.

      Wir sind erst drei Wochen später nach Westberlin gefahren, glaubten und waren der festen Annahme, dass sich bis dahin die meisten der „hungrigen“ Menschen ihr Begrüßungsgeld schon abgeholt hätte. Aber da waren wir wohl im Irrtum.

      Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. ODER: Das allererste mal

      Es war ein kalter, wolkenverhangener Novembertag, an dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür gejagt hätte. Die Scheiben unseres weißen Skoda`s waren fest zugefroren. Mein Mann war immer schon zum Auto gegangen, ließ den Motor laufen und kratzte in seiner warm gesteppten Winterjacke, mit Schal, Mütze und Handschuhen von draußen die Scheiben frei. Ein Weilchen später verließ ich mit den Kindern das Haus. Ich war irgendwie angespannt, aufgewühlt und trotzdem unwahrscheinlich neugierig auf diesen Tag und musste zusätzlich schon wieder mit unserem ältesten Sohn schimpfen. Er war ein wilder Junge, hielt sich nicht an die Regeln und wollte schon wieder die erste Geige spielen. Entnervt von ihm stiegen wir bepackt mit unseren dicken Wintersachen ins Auto.

      Unsere Freunde warteten schon auf uns. Sie saßen genauso eingemummelt in ihren dicken Jacken hinter dem Lenkrad ihres Wartburg´s wie wir und ließen den Motor laufen. Gemeinsam starteten wir in die für mich aufregendste, emotionalste Autofahrt meines Lebens.

      Ich zerbrach mir den Kopf mit der Frage, was mich an diesem Tag erwarten würde, hatte ein wenig Angst davor, mehr vor meinen Gefühlen als vor allem anderen. Wie oft begleiteten wir meine liebe Oma in die naheliegende Friedrichstraße, wenn sie zu Tante Irmgard, ihrer Cousine, nach Charlottenburg fahren wollte, sahen von fern die weißen Hochhäuser weit über Berlin ragen. Sie standen im Westen, waren einen Steinwurf von uns entfernt aber trotzdem unerreichbar für uns Menschen im Osten. Jedes mal rechnete ich insgeheim die noch vor mir liegenden Jahre aus, bis ich 65 und endlich offiziell hätte rüber fahren dürfen. Und heute sollte dieser Tag sein, vierunddreißig Jahre früher als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Freudentränen kamen immer wieder während der Fahrt über meine Wangen gerollt, ich konnte nichts dagegen tun.

      Während der Fahrt, egal wann und wohin, streckte ich meinen Kindern immer meine linke Hand entgegen, damit wir uns spüren und festhalten konnten. Ein Ritual, was ich auch heute immer wieder genauso machen würde.

      Kilometerlange Autoschlangen schoben sich langsam und stockend in Richtung Grenzübergang, es war eine Völkerwanderung auf Rädern, fast gespenstisch. Der quietschende Scheibenwischer strich immer wieder den Nebel von der Frontscheibe, es war so diesig und wollte einfach nicht hell werden. Nur diese eine Straßenseite nach Berlin war befahren, auf der Gegenüberliegenden blieb der Verkehr komplett aus. Ich hatte mich nur einmal während der Fahrt umgedreht, um aus dem Rückfenster zu sehen. Es war gruselig, fast wie im Krimi, als verfolgten uns Hunderte von Autos. In jeder Kurve, die wir gerade gefahren waren, fuhren pausenlos neue, sich dahin schiebende Trabis, Wartburg´s und Skoda`s. Ein völlig neues Bild bot sich uns!

      Irgendwann fuhren wir noch langsamer, die Autos vor und hinter uns begannen mit einem Hupkonzert, ich traute mich kaum noch, aus dem Fenster zu sehen, bekam eine Gänsehaut nach der anderen. Bewegte winkenden Menschenmassen standen zu Tausenden am Straßenrand, jubelten und applaudierten uns zu, als kämen wir gerade als Sieger ins Ziel. Plötzlich klopfte jemand vorsichtig an meine Autoscheibe. Ich erschrak, war darauf gar nicht gefasst. Eine junge Frau suggerierte mir, ich solle die Scheibe herunter lassen. Ich tat, was sie wollte. Mit den Worten: „Es ist ja so kalt!“ legte sie mir eine Tüte Ma-o-am in meinen Schoß und schenkte mir ein Buch von Pinokio für unsere Kinder. Ich konnte mich kaum bei ihr bedanken, sie rieb ihre Hände vor Kälte aneinander, hauchte in ihre offenen Handflächen und war augenblicklich wieder in der Menschenmasse verschwunden.

      Was für ein besonderer Augenblick menschlicher Wärme war das denn? Für mich bleibt diese kleine, liebevolle Geste bis heute unvergessen!

      Wir fuhren tief beeindruckt von diesem ganz besonderen Augenblick über die Grenze nach Westberlin, ich weiß nicht mehr, wo das war und ob wir unseren Personalausweis vorlegen mussten, das weiß ich auch nicht mehr. Ich erinnere mich nur an diesen Mann, nein, das war kein Mann, das war ein gut aussehender, schlanker Herr. Er kam uns entspannt lächelnd mit seinem grauen Lodenmantel entgegengelaufen, als wir nach dem Parken gerade aus unserem Skoda gestiegen waren, hatte seine Kragenecken hochgeschlagen, eine flotten Hut auf dem Kopf, einen bunten warmen Kaschmirschal um seinen Hals geknotet, wie ich es davor nur aus Filmen kannte, seinen Dackel an der Leine und sagte vornehm sympathisch zu uns: „Ich begrüße sie recht herzlich in Westberlin!“

      In dem Augenblick brach ich leise für mich in Tränen aus. Dieser Mann gab uns zu verstehen, ihr seit willkommen. Wir waren im goldenen Westen, dafür bestand für mich kein Zweifel mehr.

      Doch das dauerte nicht lange. Als wir die verschmutzten Bahnhöfen sahen, die mit Graffiti beschmierten Wände, die Hundekacke überall, unsaubere Bürgersteige, viel zu volle Müllbehälter, aus denen diverse Flaschen und zerknülltes Papier quoll, das sich bereits selbständig gemacht hatte und wild umher tanzte, wurde unser anfangs positiver Eindruck von Berlin drastisch geschmälert und getrübt. Wir fühlten uns unwohl und fremd in dieser lauten, unpersönlich stinkenden Stadt, kannten uns nicht aus. Dieser unzähmbare Verkehr, hektisch und aufregend, machte mich schon vom Zusehen nervös.

      Die Autos rasten, verschafften sich durch langes Hupen ihr Recht, drängelten sich noch gerade so dazwischen. Sie parkten dicht beieinander halb auf den matschigen, belaubten Gehwegen und ließen jeden Trabi zwischen ihnen lächerlich erscheinen. Beeindruckt war ich von den bunten Doppelstockbussen, das gebe ich ehrlich zu. Und die vielen Menschen? In unserer Kleinstadt kannte jeder jeden, und hier liefen alle fremd und anonym aneinander vorbei, waren nur bei sich, ohne den Anderen überhaupt wahrzunehmen, als wäre er gläsern und unsichtbar .

      Mit zunehmender Dunkelheit fing ganz Berlin auf einmal an zu funkeln und weihnachtlich zu erstrahlen. Tausende von Kerzen erhellten die bis eben noch so fremde, schmutzige Stadt und steckte sie in ein ganz besonderes Festtags Kleid, krempelte unsere Eindrücke und Gefühle noch einmal um und betörte unsere Sinne unvergessen. Wir hielten uns und unsere Kinder fest an den Händen, standen wie festgewurzelt und waren voller ehrfürchtiger Anmut über diese wunderschöne kilometerlange Weihnachtsdekoration. Wohin wir auch sahen, glitzerte und leuchtete es, als hätte der Herrgott einen Schalter umgelegt. Selbst


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