Weihnachtsmärchen. Charles Dickens
noch sehr, und Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit,
auch wenn man nicht gerade währenddessen tanzt. Aber selbst
wenn er sich die Nasenspitze weggeschnitten hätte, würde er ein
Stückchen Pflaster darauf geklebt und sich damit zufrieden
gegeben haben.
Er zog seine besten Kleider an und trat endlich auf die Straße.
Die Leute strömten gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen
hatte, als er den Geist der diesjährigen Weihnacht begleitete; und
mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Händen durch die
Straßen gehend, blickte Scrooge jeden mit einem freundlichen
Lächeln an. Er sah so unwiderstehlich freundlich aus, daß drei
oder vier lustige Leute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir,
fröhliche Weihnachten!«, und Scrooge sagte oft nachher, daß
von al en lieblichen Klängen, die er je gehört, dieser seinem Ohr
am lieblichsten geklungen hätte.
Er war nicht weit gegangen, als er denselben stattlichen Herrn auf
sich zukommen sah, der am Tage vorher in sein Kontor getreten
war, mit den Worten: »Scrooge und Marley, glaube ich.« Es gab
ihm förmlich einen Stich ins Herz, als er dachte, wie ihn wohl der
alte Herr beim Vorübergehen ansehen würde; aber er wußte,
welchen Weg er zu gehen hatte, und ging ihn.
»Lieber Herr«, rief Scrooge, schnel er laufend und den alten
Herrn an beiden Händen ergreifend. »Wie geht es Ihnen? Ich
hoffe, Sie hatten gestern einen guten Tag? Es war sehr freundlich
von Ihnen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten, Sir.«
»Mr. Scrooge?«
»Ja«, sagte Scrooge. »So ist mein Name und ich fürchte, er
klingt Ihnen nicht sehr angenehm. Erlauben Sie, daß ich Sie um
Verzeihung bitte! Und wol en Sie die Güte haben« hier flüsterte
ihm Scrooge etwas ins Ohr.
»Himmel!« rief der Herr, als ob ihm der Atem ausgeblieben
wäre. »Mein lieber Mr. Scrooge, ist das Ihr Ernst?«
»Wenn es Ihnen beliebt«, sagte Scrooge. »Keinen Penny
weniger. Es sind viele Rückstände dabei, ich versichere es Ihnen.
Wol en Sie die Güte haben?«
»Bester Herr«, sagte der andere, ihm die Hand schüttelnd. »Ich
weiß nicht, was ich zu einer solchen Freigebigkeit sagen sol .«
»Ich bitte, sagen Sie gar nichts dazu«, antwortete Scrooge.
»Besuchen Sie mich. - Wol en Sie mich besuchen?«
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»Herzlich gern«, rief der alte Herr. Und man sah, es war ihm
Ernst mit dieser Versicherung.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Scrooge. »Ich bin Ihnen sehr
verbunden. Ich danke Ihnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!«
Er ging in die Kirche, ging durch die Straßen, sah die Leute hin
und her laufen, klopfte Kindern die Wange, sprach mit Bettlern,
spähte hinab in die Küchen und lugte hinauf zu den Fenstern der
Häuser: und er fand, daß ihm alles das Vergnügen bereiten
könne. Er hätte es sich nie träumen lassen, daß ihn ein
Spaziergang oder sonst etwas so glücklich machen könnte.
Nachmittags lenkte er seine Schritte nach der Wohnung seines
Neffen.
Er ging wohl ein dutzendmal an der Tür vorüber, ehe er den Mut
hatte anzuklopfen. Endlich faßte er sich ein Herz und klopfte.
»Ist dein Herr zu Hause, liebes Kind?« sagte Scrooge zu dem
Mädchen. Ein nettes Mädchen, wahrhaftig!
»Ja, Sir.«
»Wo ist er, liebes Kind?« sagte Scrooge.
»Er ist in dem Speisezimmer, Sir, mit Madame. Ich will Sie
hinaufführen, wenn Sie erlauben.«
»Danke, danke. Er kennt mich«, sagte Scrooge, mit der Hand
schon auf der Türklinke. »Ich will gleich eintreten, liebes Kind.«
Er machte die Tür leise auf und steckte den Kopf hinein. Sie
betrachteten gerade den Speisetisch (der mit großem Aufwand
gedeckt war); denn junge Hausfrauen sind immer sehr bedacht
darauf und sehen gern alles in hübschester Ordnung.
»Fred«, rief Scrooge.
Heiliger Himmel, wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in
Heiliger Himmel, wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in
dem Augenblick vergessen, daß sie mit dem Fußbänkchen in der
Ecke gesessen hatte, sonst hätte er es um keinen Preis getan.
»Potztausend!« rief Fred, »wer kommt da?«
»Ich bin's. Dein Onkel Scrooge. Ich komme zum Essen. Willst
du mich hereinlassen, Fred?«
Ihn hereinlassen! Es war nur gut, daß er ihm nicht den Arm
abriß. Er war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte
herzlicher sein, als die Begrüßung 68
seines Neffen. Und auch seine Nichte empfing ihn nicht minder
herzlich. Auch Topper, als er kam. Auch die runde Schwester,
als sie kam. Und alle, wie sie nach der Reihe kamen.
Wundervolle Gesellschaft, wundervolle Spiele, wundervolle
Eintracht, wundervolle Glückseligkeit!
Aber am andern Morgen war Scrooge früh in seinem Kontor.
Oh, er war gar früh da. Zuerst dort zu sein und Bob Cratchit
beim Zuspätkommen zu erwischen! Das war's, worauf sein Sinn
stand. Und es gelang ihm wahrhaftig!
Die Uhr schlug neun. Kein Bob. Ein Viertel nach neun. Kein
Bob. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät.
Scrooge hatte seine Türe weit offen stehen lassen, damit er ihn in
das Verlies eintreten sähe.
Bobs Hut war vom Kopf, ehe er die Tür öffnete, auch der Schal
von seinem Hals. Im Nu saß er auf seinem Stuhl und jagte mit
der Feder über das Papier, als wol te er versuchen, neun Uhr
einzuholen.
»Heda«, rief Scrooge, so gut es ging seine gewohnte Stimme
nachahmend.
»Was sol das heißen, daß Sie so spät kommen?«
»Es tut mir sehr