Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George Wells
und dann wurde einen Tag um den anderen gejagt. Die Schießerei vollzog sich mit großer Feierlichkeit.«
»Warum aber taten die Leute das?« fragte Salaha.
»Ja«, sagte Beryll. »Warum nur?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Sarnac. »Ich weiß nur, daß zu gewissen Jahreszeiten die Mehrzahl der englischen Herren, die als die Führer der Intelligenz des Landes galten, die angeblich sein Schicksal leiteten und seine Zukunft in Händen hatten, in die Wälder und in das Heideland hinauszogen, um dort mit Hilfe ihrer Schießwaffen Vögel verschiedener Art in Scharen hinzumorden, Vögel, die nur zum Zwecke dieser sogenannten Jagd unter beträchtlichem Kostenaufwand gezüchtet wurden. Die edlen Jäger wurden von Wildhütern begleitet; sie stellten sich in Reihen auf, und bald widerhallte der Wald vom Knall ihrer Gewehre. Die Höchstgestellten des Landes beteiligten sich würdevoll an dieser nationalen Funktion und handhabten ihre Mordwaffen mit vornehmem Ernst. Diese Klasse war tatsächlich gerade nur soweit über völlige geistige Stumpfheit hinaus, als nötig ist, um am Geknall eines Schießgewehres und am Anblick eines verwundet herabstürzenden Vogels Freude zu haben. Sie wurden dieses Vergnügens nicht müde. Der Knall eines Gewehres war anscheinend eine wunderbare Sensation für diese Leute. Es ging ihnen nicht um das Töten allein, denn dann hätten sie ja dem Schlachten von Schafen, Ochsen oder Schweinen beiwohnen können; diesen Sport überließen sie jedoch Männern einer niedrigeren sozialen Klasse. Das Wesentliche war ihnen das Schießen, insbesondere Vögel im Fluge zu schießen. Wenn Lord Bramble nicht gerade daran war, Fasane oder Waldhühner zu töten, dann schoß er in Südfrankreich auf angstvoll flatternde Tauben mit gestutzten Flügeln, die man eben erst aus ihren Käfigen herausgelassen hatte. Oder er jagte – es handelte sich dabei nicht um eine wirkliche Jagd, nicht um einen ehrlichen Kampf mit Bären, Tigern oder Elefanten in einem Dschungel – er machte Jagd auf Füchse, übelriechende kleine Tiere mit rötlichem Fell von der Größe eines Wasserhundes, deren Aussterben man eben wegen der Sportfreuden der adeligen Herren sorgfältig verhütete. Man jagte sie auf bebautem Grund und Boden, die Jäger waren zu Pferd und von einer Hundemeute begleitet. Lord Bramble kleidete sich für dieses famose Unternehmen stets sehr sorgfältig in eine rote Jacke und Kniehosen aus Schweinsleder. Seine übrige Zeit verbrachte der gute Mann mit Kartenspielen; er liebte besonders ein Spiel, Bridge genannt, das so beschränkt und mechanisch war, daß heutzutage jedermann nach einem Blick auf die Karten das wahrscheinliche Resultat der Partie vorauswüßte. Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er übrigens auch damit, Pferderennen beizuwohnen. Die Pferde, die für diese Rennen verwendet wurden, waren eine besonders schwächliche Zucht. Auch zu diesem Anlaß kleidete sich Lord Bramble sehr sorgfältig. In den illustrierten Zeitschriften unserer Leihbibliothek hatte ich des öfteren Bilder von ihm gesehen; mit einem sogenannten Zylinder auf dem Kopf, war er ›im Gestüt der Rennpferde‹ oder auch ›mit einer befreundeten Dame‹ photographiert worden. Um den Pferderennsport und die damit verknüpften Wetten, welches Pferd gewinnen würde, spann sich ein emsiges Getriebe der Eingeweihten. Die Ernährungsweise des edlen Lord Bramble war verhältnismäßig vernünftig, nur im Genuß von Portwein tat er etwas zu viel des Guten. Man rauchte damals noch. Lord Bramble rauchte drei bis vier Zigarren am Tag, Pfeifen hielt er für plebejisch, Zigaretten waren ihm zu weibisch. Er pflegte eine Zeitung zu lesen, niemals aber ein Buch, denn er war andauernder Aufmerksamkeit unfähig. In der Stadt pflegte er des Abends ein Theater oder ein sogenanntes Varieté zu besuchen, in dem es mehr oder weniger entkleidete Frauen zu sehen gab. Leute wie Lord Bramble waren nämlich infolge der damaligen Sitte, sich zu bekleiden, von einer zimperlichen Lüsternheit nach dem Anblick nackter Frauen erfüllt. Die normale Schönheit des menschlichen Körpers war ein Geheimnis, und ein gut Teil der Kunstgegenstände und des Zimmerschmucks im Herrenhause von Chessing Hanger spielte in anregender Weise Verstecken mit dem verbotenen Anblick.
In dem verflossenen Dasein, von dem ich euch erzähle, nahm ich die Lebensweise des Lord Bramble als etwas Selbstverständliches hin, jetzt aber beginne ich zurückblickend einzusehen, wie ungeheuerlich absurd diese Leute doch waren, die ihre Zeit damit verbrachten, erschreckte Vögel hinzumorden, Pferde und Stallknechte hielten und heimlich nach weiblichen Hüften und Schultern guckten. Die Frauen dieser Männer sympathisierten mit ihrer sinnlosen Schießerei, waren entzückt von den Pferden, liebten Schoßhunde, zwerghafte und erbärmliche kleine Geschöpfe, und ließen sich die erwähnten verstohlenen Blicke gerne gefallen.
Dieser Art war das Leben der damaligen Aristokraten. Sie waren tonangebend für das, was damals als gesunde und prächtige Lebensweise galt. Die anderen Klassen der Bevölkerung bewunderten sie sehr und ahmten sie, soweit sie nur konnten, nach. Der kleine Pächter schoß Kaninchen, wenn er schon nicht auf die Fasanenjagd gehen konnte; und da ihm Zwanzigpfundnoten für die eleganten Pferderennen zu Goodwood nicht zur Verfügung standen, setzte er doch bei dem bescheidenen Rennen in Cliffstone seine zwei Shilling auf ein Lieblingspferd und wohnte diesem Wettspiel stolz bei, den Hut möglichst ebenso in die Stirn gedrückt wie Lord Bramble und König Eduard.
Zahllose Menschen äfften in ihrer Lebensweise die Gepflogenheiten und Traditionen der führenden Aristokraten nach. Da war zum Beispiel mein Onkel John Julip. Sein Vater sowie auch sein Großvater waren Gärtner gewesen, und fast alle seine Verwandten mütterlicherseits gehörten der sogenannten dienenden Klasse an. Unter all den Leuten, die in Lord Brambles Diensten standen, zeigte kein einziger ein natürliches Gehaben; sie ahmten alle, mit mehr oder weniger Erfolg, irgendeine Dame oder einen Herrn der Aristokratie nach. Das Ideal Onkel Julips war ein gewisser allbekannter Sir John Cuthbertson. Er kaufte sich ebensolche Hüte wie dieser und versuchte sich in ähnlichen Gebärden.
Und gleich seinem Vorbild machte er große Wetten bei den Pferderennen, hatte dabei aber meist Pech. Darüber war meine Tante recht böse, doch daß ihr Gatte in Kleidung und Gehaben Sir John ähnelte, machte ihr entschieden Freude.
›Wenn er nur als Aristokrat auf die Welt gekommen wäre,‹ pflegte sie zu sagen, ›dann wär' ja alles in Ordnung gewesen. Er ist ein geborener Sportsmann; die Gartenarbeit ist nichts für ihn.‹
Jedenfalls überanstrengte er sich nicht bei der Gartenarbeit. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn jemals graben oder eine Karre schieben gesehen hätte. Er pflegte im Garten zu stehen, eine Harke in der einen Hand, mit der er herumfuchtelte, als ob sie eine Reitpeitsche wäre, mit der anderen gestikulierend und andere zur Arbeit antreibend.
Meinem Vater und mir gegenüber setzte er stets eine bewußt aristokratische und höchst würdevolle Miene auf. Dabei war mein Vater beträchtlich größer als er und auch weitaus gescheiter. Er sprach meinen Vater immer nur kurzweg ›Smith‹ an.
›Was willst du mit dem Jungen anfangen, Smith?‹ pflegte er zu fragen. ›Ich glaube, der braucht bessere Kost und frische Luft.‹
Mein Vater, der zwar insgeheim die allgemeine Ansicht teilte, daß Onkel John, unter einem glücklicheren Stern geboren, einen prächtigen Edelmann abgegeben hätte, war stets bemüht, sich, wie er sagte, nicht allzu viel von ihm gefallen zu lassen, und nannte ihn deshalb ›John‹. Er pflegte zu antworten: ›Ich habe noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt, John. Vorläufig ist der Junge ein richtiger Bücherwurm, man kann ihm zureden, wie man will.‹
›Bücher!‹ rief Onkel John. Er besaß eine dem Engländer überhaupt eigene Verachtung für Bücher. ›Aus Büchern kannst du nichts herausholen, was nicht hineingetragen worden wäre. Das ist klar. Bücher sind bestenfalls gepreßte Blumen, sagte Seine Lordschaft erst neulich beim Dinner.‹
Der Gedanke machte Eindruck auf meinen Vater. ›Ja, das sage ich ihm auch‹, meinte er, welche Behauptung nicht ganz stimmte.
›Und dann, wer wird etwas Wissenswertes in ein Buch schreiben?‹ fuhr der Onkel fort. ›Da könnte man ebenso gut von den Kerlen, die in den Zeitungen über die Rennen schreiben, erwarten, daß sie einem einen nützlichen Wink geben. Den behalten sie aber lieber für sich!‹
›Ja, ja,‹ stimmte mein Vater zu, ›ich denke mir auch immer, daß die Leute, die Bücher schreiben, einem was aufbinden und einen obendrein noch auslachen.‹ Dann faßte ihn mitten in seiner Überlegung eine fromme Ehrfurcht. ›Trotzdem, John, gibt es Ein Buch.‹
Er dachte