Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George Wells

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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Inhalt sagen kann. Snapes sprach von Dingen wie den ›Tröstungen des allerheiligsten Sakramentes‹ oder der ›Tradition der Kirchenväter‹. Sehr weitläufig ließ er sich über die Kirchenfeste aus, über die Adventzeit, den Tag der heiligen drei Könige und Pfingsten, und er benützte eine stehende Formel des Übergangs zur Betrachtung unserer Zeit: ›Und auch wir, liebe Brüder, haben unsere Adventzeit und unser Fest der heiligen drei Könige.‹ Dann kam er auf den bevorstehenden Besuch König Eduards in Lowcliffe zu sprechen, oder auf Kontroversen, die den Bischof von Natal oder den von Zanzibar betrafen. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie fernab das alles von den wichtigen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens lag.

      Und dann, wenn ich armer kleiner Kerl bereits kaum mehr zu hoffen wagte, daß die glatte Stimme jemals zu reden aufhören werde, kam plötzlich eine kleine Pause und gleich darauf die erlösenden Worte: ›Und nun, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes –‹

      Es war überstanden! Eine Bewegung ging durch die Kirche. Wir erhoben uns, knieten noch einen Augenblick, scheinbar betend, hin, suchten dann nach Hüten, Überröcken und Regenschirmen und traten schließlich ins Freie hinaus. Da gab es ein großes Fußgetrappel auf dem Pflaster, die Leute zerstreuten sich da und dort hin, Bekannte begrüßten einander steif, Prue lief zum Bäcker, um den Sonntagsbraten zu holen, und wir anderen gingen geradewegs nachhause.

      Gewöhnlich gab es köstliche Bratkartoffeln zur Fleischspeise, manchmal auch eine Obsttorte. Im Frühling aber war diese gewöhnlich aus Rhabarber gemacht, was ich nicht leiden konnte. Es hieß, Rhabarber sei mir besonders zuträglich, und ich mußte immer besonders viel von der Rhabarbertorte essen.

      Am Nachmittag war Sonntagsschule oder ›Kindergottesdienst‹, und von der Gegenwart der Eltern befreit, begaben wir drei Kinder uns ins Schulgebäude oder wieder in die Kirche, um in den Besonderheiten unseres Glaubensbekenntnisses unterrichtet zu werden. In der Sonntagsschule lehrten Personen, die für diese Aufgabe weder vorbereitet, noch sonst im geringsten geeignet waren; werktags kannten wir sie als Ladenverkäufer oder dergleichen, einer war Schreiber bei einem Auktionator, ein anderer ein schwerhöriger Greis mit buschigem Haar. Sie teilten uns in Klassen auf und hielten uns Vorträge über das Leben und die recht zweifelhaften Taten des Königs David von Israel, Abrahams, Isaks und Jakobs, über die schlechte Aufführung der Königin Jesabel und dergleichen Themen mehr. Auch sangen wir leichte Hymnen im Chor. Mitunter erzählten uns unsere Lehrer auch von Christus, aber ohne jedwedes Verständnis; sie schilderten ihn als eine Art Zauberkünstler, der Wunder wirkte und die Toten auferweckte. Somit habe er uns ›erlöst‹, behaupteten sie – trotz der offenkundigen Tatsache, daß wir wahrhaftig nicht erlöst waren. Ihr wißt ja, daß die Lehre Christi zwei Jahrtausende hindurch unter einem Wust von Geschichten über Auferstehung und Wundertaten begraben lag. Er war ein Licht, das in der Finsternis schien, und die Finsternis wußte nichts davon. Von der großen Vergangenheit des Menschen, von den langsamen Fortschritten der Völker und Rassen auf dem Gebiete des Wissens, von ihren trüben Ängsten, ihrem dunklen Aberglauben und den ersten Siegen der Wahrheit, von der Niederkämpfung und Veredlung der menschlichen Leidenschaften im Verlaufe langer Zeitalter, von Forschung und Entdeckung, von den schlummernden Kräften unseres Körpers und unserer Sinne und von den Gefahren und den Aussichten, unter denen wir selbst, die Menschenscharen unserer Zeit, dumpf dahinlebten, schwer irrend und doch immer wieder von Hoffnung und Verheißung erfüllt: von all dem erfuhren wir nichts. Man deutete uns nicht im entferntesten an, daß es eine Gemeinschaft aller menschlichen Wesen gebe und letzten Endes ein gemeinsames Schicksal der ganzen Menschheit. Unsere Lehrer wären entsetzt gewesen, wenn man derlei in der Sonntagsschule erwähnt hätte.«

      »Und wohlgemerkt,« sagte Sarnac, »eine bessere Vorbereitung auf das Leben als die Art Unterricht, den ich empfing, gab es damals überhaupt nicht. Die alte St. Osyth-Kirche wurde von einem Geistlichen, namens Thomas Benderton, geleitet, dessen Gemeinde von Jahr zu Jahr abnahm, weil er die Leute durch Drohungen mit den Schrecknissen der Hölle in Angst zu versetzen pflegte. Er hatte meine Mutter in die St. Jude-Kirche hinübergescheucht, indem er in seinen Drohpredigten immer wieder den Teufel erwähnte. Sein Lieblingsthema war die Sünde der Götzendienerei, und wenn er davon sprach, bezog er sich stets im besonderen auf das Gewand, das Mr. Snapes bei Zelebrierung der Kommunion trug, überdies auch auf eine dunkle Prozedur mit Brot und Wein während dieser Zeremonie.

      Was die Kongregationalisten und Methodisten in ihren Gotteshäusern und Sonntagsschulen taten und lehrten, weiß ich nicht genau, denn meine Mutter wäre in einen Paroxismus religiösen Entsetzens verfallen, wenn ich irgendeiner Versammlung einer fremden Sekte beigewohnt hätte. Ich weiß aber, daß ihre Riten nichts als eine Vereinfachung unserer Kirchengebräuche waren, wobei sie sich noch etwas weiter von der alten Messe entfernten, dafür aber um so zäher am Teufel festhielten. Die Methodisten insbesondere legten großen Nachdruck auf den Glauben, daß die meisten Menschen nach den Entbehrungen und dem Elend dieses Lebens in die Hölle kommen und dort die entsetzlichsten Qualen zu erdulden haben würden. Ich wurde darüber genau belehrt, als ein Junge aus einer Methodistenfamilie, ein wenig älter als ich, mir eines Tages während eines gemeinsamen Spazierganges nach Cliffstone von seinen Befürchtungen in dieser Hinsicht erzählte.

      Es war etwas Geducktes in seiner Haltung, und er hatte eine eigentümliche Art, die Luft durch die Nase zu ziehen. Gewöhnlich trug er einen langen, weißen Schal um den Hals, eine Erscheinung wie die seine gibt es nun seit Jahrhunderten nicht mehr auf der Welt. Wir schlenderten über die Strandpromenade, die sich längs der Klippen hinzog, an einem Musikpavillon vorbei und an Reihen von Strandstühlen, auf denen Leute saßen oder lagen. Scharen von Menschen in den sonderbaren Festtagskleidern der damaligen Zeit bevölkerten die Strandpromenade, dahinter erhoben sich die blaßgrauen Häuser, in denen sie wohnten. Und mein Gefährte sprach: ›Mr. Molesly sagt, das Jüngste Gericht kann jeden Augenblick hereinbrechen – kann anbrechen in feuriger Pracht, bevor wir noch bis hinunter ans Ende des Strandwegs gelangt sind. Und dann werden all die Leute gerichtet ...‹

      ›So wie sie da sind?‹

      ›Ja, so wie sie da sind! Die Frau dort mit dem Hund und der Dicke, der da in seinem Stuhl schläft, und – der Polizist.‹

      Er hielt inne, selbst ein wenig erstaunt über die hebräische Kühnheit seiner Gedanken. ›Auch der Polizist‹, wiederholte er. ›Sie werden gewogen und zu leicht befunden werden, und dann kommen die Teufel und martern sie. Martern den Polizisten, verbrennen ihn und schneiden ihn in Stücke. Und jeden andern auch. Schreckliche, schreckliche Martern ...‹

      Ich hatte bis dahin die Anwendung der christlichen Lehre niemals in solcher Weise ausmalen gehört und ich war bestürzt.

      ›Ich würde mich verstecken‹, sagte ich.

      ›Er würde dich aber sehen. Er würde dich sehen und dich den Teufeln zeigen‹, sagte mein kleiner Freund. ›Er sieht auch jetzt die bösen Gedanken in uns.‹«

      »Ja, aber glaubten denn die Menschen derartigen Unsinn?« rief Heliane.

       »Soweit sie überhaupt an etwas glaubten«, erwiderte Sarnac. »Ich gebe zu, es ist schrecklich, aber es war so. Könnt ihr euch vorstellen, welch verkrampfte Gemüter sich unter solchen Lehren in unseren unterernährten und infizierten Körpern entwickelten?«

      »Nur wenige können das groteske Märchen der Hölle wirklich geglaubt haben«, meinte Beryll.

      »Mehr Menschen, als man denken sollte, glaubten es«, sagte Sarnac. »Selbstverständlich beschäftigten sich nur wenige andauernd damit – sonst wären sie ja wohl verrückt geworden –, aber latent schlummerte es in vielen Gemütern. Und die anderen? Bei den meisten hatte diese grauenhafte Auffassung der Welt und des Daseins eine Art passiver Abwehr zur Folge. Sie leugneten jene Vorstellung nicht, unterließen es aber, sie ihrem Gedankenkreis wirklich einzuverleiben. So entstand etwas wie eine tote Stelle in ihnen, eine Narbe, da, wo ein Empfinden für das Menschheitsschicksal hätte sein sollen, eine Vision des Lebens über die individuelle Existenz hinaus ...

      Es fällt mir schwer, den Gemütszustand zu schildern, in den wir hineinwuchsen. Geist und Gemüt der Kinder nahmen durch jene Lehre Schaden; ein normales geistiges Wachstum wurde durch sie unmöglich gemacht, es wurde, in einer Hinsicht zumindest, unterbunden. Vielleicht


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