Eine Frage der Macht. Hermann Brünjes
meistens wird es so gesehen. Fressen und gefressen werden. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Der Wolf als Metapher für Aggression und existenzielle Bedrohung.«
»Vermutlich ist es genau dies, was die Wolfsgegner motiviert, ihn zu bekämpfen, oder?«
Maren schüttelt mit dem Kopf.
»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht nur. Zumindest die Schäfer kämpfen teilweise ums Überleben. Was jedenfalls auch in diesem Fall eine Rolle spielt: Sie kämpfen. Es geht also wieder um Macht. Wer setzt sich durch? Wer ist der Stärkere? Da hast du wieder die Verbindung.«
Mir ist schon fast ein bisschen unheimlich zumute. Heute Morgen dachte ich noch, Himmelfahrt sei ein freundlich frühlingshaftes und etwas geheimnisvoll-skurriles kircheninternes Thema – jetzt, am Abend desselben Tages, ist es mit Wahlkampf, Wolfsabschüssen und Machtkämpfen verbunden. Ich bin gespannt, was sich noch ergibt.
Donnerstag, 5. Mai
Ich rufe Schorse an. Mein alter Freund Georg Martens ist Hauptkommissar bei der Lüneburger Kripo. Leider hat er keine Ahnung, was es mit den illegalen Abschüssen auf sich hat.
»Mensch Jens«, meint er lachend, »wenn wir von der Mordkommission uns auch noch um tote Viecher kümmern sollen, bräuchte ich zehn Schreibtische und täglich zwanzig Stunden Arbeitszeit! Nee, das machen die Kollegen. Ich kümmere mich um die tote Großmutter, aber nicht um den bösen Wolf – es sei denn, der hat sie gefressen.«
Schorse kichert ins Telefon.
Wer jemals in seinem Büro war, kann sich die Sache mit den Schreibtischen sofort bildhaft vorstellen. Seinen sieht man vor lauter Akten, Kartons und Papierstapeln schon nicht mehr. Auch wenn man es der lieblichen Lüneburger Heide nicht zutraut: Die zu überprüfenden Todesfälle in dieser Region sind überaus zahlreich. Bei fast dauerhafter Unterbesetzung der Kripo hat es Schorse manchmal schwer. Er hat sogar schon überlegt zu wechseln und schimpft vor allem auf die Politik, von der sich die Polizei oft im Stich gelassen fühlt.
»Kannst du mir denn einen Kontakt machen?«
»Klar. Ich spreche mit den Kollegen, kriege heraus, wer den Fall bearbeitet und melde mich. Okay?«
»Danke! Wir sollten mal wieder ein Bierchen trinken.«
»Oh Jens, das ist Musik in meinen Ohren!«
Etwa eine halbe Stunde später ruft mich eine Kollegin von Schorse an und gibt mir Namen und Durchwahl des Beamten, der die Sache mit den Wölfen bearbeitet. Ich rufe an. Der Beamte, ein Oberkommissar Hansen, ist nicht anwesend. Ich kann jedoch einen Termin für heute Nachmittag machen.
Gut, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, denke ich. Der Wonnemonat Mai präsentiert sich in den letzten Tagen, und besonders heute, gänzlich anti-wonnig. Ein Sturmtief aus Südwesten zieht über die Heide. Stark- und Dauerregen wechseln sich ab. Die Sonne versucht zwischendurch zwar zögernd, ein paar Strahlen auf die Erde zu schicken, die Löcher zwischen den Wolkenbergen zeigen in solchen Momenten auch blauen Himmel und versprechen Licht und Lebensfreude – es bleiben jedoch leere Versprechen.
Seit ich in Himmelstal wohne, habe ich das häusliche Arbeitszimmer von Oliver übernommen, Marens verstorbenem Ehemann. Es liegt mit dem Fenster nach Westen im Keller. Es ist schon ein bisschen komisch, in die Fußstapfen des ehemaligen Besitzers dieses gemütlichen und gut ausgestatteten Büros zu treten. Selbst einige seiner Bücher stehen noch in Schränken und Regalen. Maren hat ihren Mann geliebt. Es ist ihr Haus und ihr Keller, nicht meiner. Manchmal komme ich mir vor wie ein Kuckuck. Ich setze mich ins gemachte, fremde Nest. Maren tut ihr Bestes, mir bei der Aneignung dieses neuen Lebensraumes zu helfen. Doch auch im dritten Jahr fühle ich mich immer wieder etwas fremd und komme mir vor wie ein Schnorrer. Obwohl ich natürlich kräftig mithelfe, mein Reportergehalt einsetze und in Haus und Garten anpacke.
Für einen Moment reißt die Wolkendecke auf. Als könnte mich das flüchtige Blau des Himmels motivieren, nehme ich mir unsere To-Do-Liste vor.
Elske will mit den Interviews einiger Politiker beginnen und Kandidaten der SPD, CDU und der Grünen befragen. Sie wohnt in der Kreisstadt und wird die Vertreter dieser Parteien in ihren Büros besuchen. Die schwierigeren Bewerber um die Macht im Staate wollen wir uns dann zusammen vornehmen. Allemal den Spitzenkandidaten der DZP, der rechts außen für immer mehr Furore sorgenden Deutschen Zukunfts-Partei. Liest man das Parteiprogramm und hört man die Reden der meist männlichen Vertreter der DZP, weiß man, was sie am liebsten wollen: Zurück in die Zukunft eines vierten Reiches.
Besonders spannend oder bedrohlich, je nach Einstellung: Der Spitzenkandidat der DZP rechnet sich Chancen aus, in den Landtag zu kommen und dort sogar in eine regierende Koalition einzusteigen. Der Mann heißt Konstantin von Bering. Er ist erst 38 Jahre alt, sieht gut aus, ist klug und als charmanter Redner besonders bei den Frauen beliebt. Seine Familie lebt ganz in der Nähe unseres Dorfes auf einem großen Gutshof. Elske macht den Termin. Ich bin sehr gespannt, diesen politischen Senkrechtstarter kennenzulernen.
Ich habe es übernommen, einige Interviews wegen Himmelfahrt zu führen. Es wird ähnlich laufen wie ich es bei den anderen Feiertagen gemacht habe: Ein Fachgespräch mit unserem Pastor, Befragungen von jungen Leuten im christlichen Tagungshaus und von Gemeindegliedern. Natürlich wird es auch um den »Vatertag« gehen, um Bollerwagen, Saufen und Flugschau. Ansprechpartner dafür finde ich mehr als genug – und wenn mir doch noch jemand fehlt, interviewe ich meinen Kollegen Steini als Bollerwagenexperten.
Beginnen werde ich allerdings mit der Wolfsthematik. Da »brennt es« gewissermaßen.
Noch heute Morgen beim Bäcker war ich Zeuge einer Auseinandersetzung wegen einer Meldung im Radio. »Sie haben schon wieder einen Wolf geschossen!« meinte Axel, unser Sportwart. »Die sollte man umgehend einbuchten!« Jan, ein mir recht unsympathischer Feuerwehrkamerad, konterte: »Nee, denen sollte man einen Orden verleihen! Die sehen den Wolf und knallen ihn ab. So muss es sein. Der Wolf gehört hier nicht her!« Die brünette Bedienung schüttelte mit den Kopf. »Jan, was redest du da? Du kannst doch nicht alles abknallen, was hier nicht hergehört!« »Wieso denn nicht? Wenigstens vergrämen oder wie sie das nennen, ist doch angesagt. Das gilt für Flüchtlinge aus dem Süden genauso wie für Wölfe aus dem Osten.« »Du solltest dich bei Konstantin und seiner DZP bewerben, Jan. Kannst ihm den Koffer tragen und die Drecksarbeit machen.«
Wie das Gespräch ausging, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Es begann, als ich schon an der Kasse stand und den Laden gerade verlassen wollte. Im Nachhinein war es falsch, dass ich ohne ein Wort gegangen bin. Sonst mische ich mich gerne ein – allemal, wenn es um derartige Themen geht. Das Thema »Wölfe« polarisiert zumindest hier in der Region jedenfalls genauso wie das Thema »Flüchtlinge«. Ich finde, es wird sogar noch kontroverser und aggressiver diskutiert. Flüchtlinge gibt es seit der Welle 2015 kaum bei uns auf den Dörfern. Wölfe umso mehr.
Die Fronten sind klar. Tierschützer, darunter auffällig viele Hundeliebhaber, freuen sich über die Rückkehr der Wölfe und wollen sie um jeden Preis schützen. Schafzüchter und andere Weidetierhalter verlieren durch Wölfe viele ihrer Tiere und haben durch Schutzmaßnahmen extrem hohe Kosten. Sie wollen die Wölfe loswerden. Auch ohne Interviews der verschiedenen Gruppen kenne ich inzwischen die Argumente. Einen Mittelweg lehnen viele kategorisch ab. Danach allerdings suchen die meisten Politiker und Bürger der Region. Mit Wölfen leben, deren Vermehrung jedoch kontrollieren und sie von Nutztieren und Menschen fernhalten – dass dies nicht gerade einfach ist, liegt auf der Hand. Inzwischen gibt es etwa 350 Wölfe in Niedersachsen. Das sind sieben bis acht auf tausend Quadratkilometer. In Kanada sind es nur sechs und in Russland nur ein einziger Wolf auf der gleichen Fläche.
Die Konflikte sind also vorprogrammiert und es wundert mich nicht, dass inzwischen bereits hunderte von Artikeln und Leserbriefen zu diesem Thema allein in unserer Kreiszeitung abgedruckt wurden.
Nun jedoch eskaliert die Sache: Wilderer dezimieren den Wolfsbestand, wie es aussieht, systematisch – oder sie setzen zumindest »Zeichen« für ihre Position. Die Gegenseite steht dem nicht nach. Militante Tierschützer fackeln Hochsitze