Eine Frage der Macht. Hermann Brünjes
entsprechenden Waffenschein auch ein Gewehr besitzen? Also auch Sportschützen, Soldaten und... Polizisten?«
Hansen stutzt und fummelt an seiner Lesebrille herum.
»Sie denken echt mit. Stimmt. Trotzdem gehen wir davon aus, dass die Wilderer zugleich auch Jäger sind.«
»Und Jäger, die außerdem die Gegend kennen, also Jäger aus der Region. Dann müssten Sie diese doch befragt haben, oder?«
Der Inspektor lacht.
»Natürlich – schön wär’s! Es sind ja auch nur ein paar hundert Personen, die theoretisch in Frage kommen! Der Süsing und umliegende Waldgebiete sind riesig. Da gibt es Unmengen an Jagdrevieren. Teilweise handelt es sich um Staatsforst, teilweise um Privatbesitz. Wir haben die Wölfe an sehr verschiedenen Orten gefunden.«
Also wurden die Jäger nicht befragt.
»Wir? Die Polizei hat die Wölfe gefunden?«
»Nein, natürlich nicht. Zweimal haben Forstarbeiter, einmal ein Förster und einmal ein Wanderer die Tiere entdeckt.«
»Und die Kadaver lagen offen da? Oder haben die Wilderer versucht, sie zu verbergen? Oder sind die Wölfe angeschossen worden und irgendwo im Wald verendet?«
»Wo sie’s sagen. Nein, die toten Wölfe lagen alle offen da, zwei sogar mittig auf einem Weg. Herr Jahnke, wieder eine kluge Frage! Vielleicht sollten wir Sie als Profiler engagieren, wie in den amerikanischen Filmen...!«
Hansen lacht. Er hat ein echt gutmütiges Gemüt, für einen Polizisten allerdings vielleicht etwas zu schlicht gestrickt.
»Sie haben also keine Verdächtigen?«
Er setzt sich die Brille auf die knollige Nase und blättert in einer der Akten.
»Herr Jahnke, und wenn, dürfte ich Ihnen das doch nicht sagen! Aber nein. Wir haben keine Verdächtigen außer jenen, die für so etwas sowieso in Frage kommen.«
»Wen meinen Sie da?«
»Ist doch klar: Die Weidetierhalter und Aktivisten von ›Wolfsfreie Dörfer‹ und solchen Initiativen. Die wollen die Wölfe jedenfalls loswerden. Und das versteht man ja auch.«
Sein letzter Satz kommt sichtbar von Herzen.
Am Ende des Gesprächs zeigt mir der Inspektor auf einer Karte die Fundorte und diverse Fotos, die nicht in der Zeitung waren. Ich darf die Karten fotografieren.
Wir stehen schon und haben uns verabschiedet, da fällt mir noch eine Frage ein.
»Inspektor, wie kommt es eigentlich, dass die Lüneburger Presse so schnell informiert war? Hätte der Pressesprecher Ihrer Dienststelle die Sache wie üblich weitergegeben, hätten doch auch wir sofort davon erfahren. Hören Ihre Medien etwa den Polizeifunk ab?«
Mir scheint fast, mein Gegenüber errötet. Er druckst ein bisschen herum, bleibt aber der ehrliche, harmlose Polizist.
»Tja, da bitte ich um Entschuldigung. Als im Januar die Meldung vom ersten toten Wolf hereinkam, war mein Schwager zufällig zu Besuch. Er ist Ihr Kollege beim Lüneburger Kreisblatt.«
So etwas habe ich mir schon gedacht.
»P.K. Hinter diesem Kürzel steckt also Ihr Schwager?«
»Ja. Es ist mir peinlich. Aber er wollte dann auch bei den nächsten Wölfen immer alles als Erster wissen. Patrik Ka-linowski heißt er.«
Wir wissen beide, dass Hansen sich damit kurz vor Ende seiner Dienstzeit keinen guten Dienst erwiesen hat. Das sage ich ihm auch, nehme ihm jedoch die Angst, diese Indiskretion zu melden. Im Gegenzug verspricht er mir, sich bei weiteren Vorfällen zuerst bei mir zu melden. So ist das Mediengeschäft: Wer zuerst an die Infos kommt, vermarktet sie. Unsere Fragen bezüglich der schnellen Pressemeldungen sind also geklärt. Die »gute Vernetzung« der Lüneburger besteht in diesem Fall schlicht in verwandtschaftlichen Kontakten zwischen Presse und Polizei und ich kann mir den geplanten Besuch bei der Konkurrenz und dem eifrigen Kollegen Kalinowski ersparen.
Als ich gehe, bin ich im Bild:
Die Ermittlungen wurden vermutlich ohne besonderen Eifer durchgeführt. DNA und Obduktion der Wölfe wurden dem Wolfsberater und dem Labor in Berlin überlassen. Die Polizei hat die Berichte abgeheftet, sie aber vermutlich nicht ausgewertet. Von Inspektor Hansen habe ich den Eindruck, dass auch er die Wölfe in unseren Wäldern und Kulturlandschaften für fehl am Platz hält. Vielleicht hat ihn auch das in seinem Eifer ausgebremst, abgesehen von seiner sinkenden Vorruhestandsmotivation.
Der oder die Täter waren klug und haben Hinweise wie leere Patronenhülsen und andere Spuren beseitigt oder vermieden. Sie haben die Wölfe allerdings nicht nur erschossen, sondern auch präsentiert. Was bedeutet: Die Tiere sollten gefunden und damit sollte folglich ein Zeichen gesetzt werden. Welches, ist klar: Keine Wölfe in der Heide. Abschuss frei!
Im Januar fand man den ersten erschossenen Kadaver, einen älteren Rüden. Ende Februar folgte eine trächtige Fähe, direkt nach Ostern ein junger Rüde. Das letzte »Zeichen« war dann ein Jährling. Ihn fand man vorgestern, kurz vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes. Ob das von Bedeutung ist? Vielleicht geht es auch um ein Zeichen an die Politik.
*
Auch als ich zurückfahre, regnet und stürmt es noch. Ich konzentriere mich auf die nasse Straße. Immer wieder jedoch gleitet mein Blick zum Waldrand. Hier leben Wölfe. Unsere Wälder sind nicht mehr so harmlos und ungefährlich wie vor Jahren noch.
Etwa 130 Rudel der Raubtiere sind in Deutschland registriert, 30 davon leben allein in der Heide. Ich versuche, die Bäume mit Blicken zu durchdringen. Irgendwo dort drinnen...
Viele der Tiere wurden bereits Opfer im Straßenverkehr. Auf dieser Straße fährt Maren fast täglich zur Arbeit. Im Schichtdienst als Krankenschwester muss sie oft auch nachts hier durch. Ich bin froh, dass sie bisher weder einen Wolfs- noch einen anderen Wildunfall hatte.
Ich fahre jetzt lieber etwas langsamer.
Freitag, 6. Mai
Das Wetter hat sich beruhigt. Wie gut, denn heute habe ich etwas Besonderes vor! Der Schäfer Jörg Bauer hat mich eingeladen, dem Beginn seines jährlichen Herdentriebs zu den Elbdeichen beizuwohnen. »Wenn Sie morgen nicht kommen«, hat er gestern am Telefon gesagt »bin ich die nächsten sechs Tage nur noch am Handy zu erreichen. Wir sind auf Wanderschaft und siedeln an die Elbdeiche um.«
Ich schnappe mir mein geliebtes Stevens-Rad und verlasse Himmelstal gen Süden. Auf der schmalen, ansteigenden Landstraße kommt mir eine riesige Schafherde entgegen. Sie nimmt die gesamte Breite der Straße ein. Es folgen drei Fahrzeuge, die nicht an den vielen blökenden Wollknäueln vorbeikommen. Schnell steige ich vom Fahrrad.
Was ich vor mir sehe, wirkt wie eine Szene aus einem Heimatfilm: Der Schäfer geht vorweg, neben sich einen seiner Hunde. Die wuscheligen Schafe folgen ihm. Manche haben schwarze Köpfe und Beine, andere sind einfarbig beige. Sie alle blöken und drängeln in gleicher Weise. Einige Lämmer, darunter auch schwarze, hüpfen ungeduldig herum. Hinten sehe ich einen weiteren Schäferhund. Er treibt die Herde an und holt Nachzügler aus dem Straßengraben.
»Na, Sie sind dann ja wohl der Reporter!«
Der Schäfer begrüßt mich freundlich mit einer tiefen und irgendwie beruhigenden Stimme. Er ist in meinem Alter, also Anfang sechzig. Unter einer Art Cowboyhut schauen graue Haare hervor. Schon der erste Blick in sein Gesicht lässt einen Mann erkennen, der viel draußen ist und sich Wind und Wetter aussetzt. Ein etwas altmodisch anmutender dicker, dunkler Wollmantel schützt ihn vor Kälte und Wind. Feste Schnürstiefel und ein langer Stab in der Hand komplettieren das Bild des Heide-Schäfers aus dem Bilderbuch.
»Kommen Sie«, lädt er mich ein. »Schieben Sie ihr Rad und gehen ein Stück mit mir und meiner Truppe!«
Er lacht.
Das Fahrrad schiebend, gehe ich neben