Eine Frage der Macht. Hermann Brünjes
strenge Schutz des Wolfes im Bundes- und EU-Recht macht den Umgang mit dem Raubtier besonders schwierig. Während sich bei uns in der Heide die Wölfe fröhlich vermehren und sich an den nur unzureichend geschützten Weidetierbüffets gütlich tun, spielt das Thema in der »großen Politik« kaum eine Rolle. Auf der »kleinen« politischen Bühne allerdings eskaliert der Streit vor Ort.
Ich recherchiere wie immer zunächst im Internet. Andere europäische Länder regulieren ihre Wolfspopulation. In Schweden werden 300, in Frankreich 500 erwachsene Tiere akzeptiert. Danach wird »entnommen«, also abgeschossen. Mir erscheint das logisch. Eine Zeit lang macht ein radikaler Schutz Sinn, dann nicht mehr. Es wird interessant, die Wahlkandidaten unserer Region zum Umgang mit dem Wolf zu befragen.
Für heute jedenfalls ist es genug.
Auf meinem Schreibtisch liegen diverse Zettel mit Stichworten und Zahlen zum Thema Wolf. Telefonisch treffe ich noch eine Verabredung mit einem Schäfer, der auch Gründungsmitglied von »wolfsfreie Dörfer« ist. Zu dieser als Verein organisierten Initiative gehören vor allem Weidetierhalter, aber auch Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten und Touristiker, die Angst haben, dass Gäste und Urlauber ausbleiben, weil sie sich nicht mehr in die Wälder trauen.
Jedenfalls gehe ich vorbereitet in die Gespräche und weiteren Recherchen.
*
Mein treuer Golf IV schnurrt über die Landstraße. Auch heute Nachmittag wütet das Sturmtief. Schauer und Wolkenlücken wechseln sich ab. Irgendwie hat das was. Die regennasse Asphaltdecke dampft unter plötzlich kräftigen Sonnenstrahlen. Kurz darauf prallen dicke Regentropfen auf den schwarzen Belag. Bevor sie sich in die abwärts fließenden Wasserströme einfügen, hüpfen sie noch einmal in die Höhe. Ich muss kurzzeitig langsamer fahren, um Aquaplaning zu vermeiden.
Rechts und links liegen Felder, weiter hinten Wald. Die Kartoffeln sind gepflanzt. In manchen der Furchen fließt das Wasser in kleinen, immer reißender werdenden Strömen gen Senke. Es ist hügelig. Manche Felder präsentieren sich in sattem Grün, andere sind noch braun, doch frisch gepflügt und gedrillt. Am Wegrand blühen Schlehen und Felsenbirne. Birken, Buchen, Erlen und andere Bäume und Büsche tragen helles Grün. Schwarz recken alte Eichen ihr noch winterliches Geäst in den Himmel. Das große zusammenhängende Waldgebiet im Hintergrund und jene Region, durch die jetzt fahre, heißt »Süsing«. Irgendwo dort hat man die erschossenen Wölfe gefunden. Ich durchfahre den kleinen Nachbarort und komme an den mit Maibäumen dekorierten Gebäuden eines beliebten Bekleidungs- und Schuhladens vorbei. Kurz darauf tauche ich ins Waldgebiet ein. Zu Beginn erinnert mich die Landschaft an den Schwarzwald: Hohe Nadelbäume, Hügel und Abbrüche, die man fast als Schluchten bezeichnen kann. Bis auf 110 m erheben sich hier eiszeitliche Verschiebungen. Später bleibt es hügelig, wirkt jedoch weniger schroff. Nadel- und Mischwald wechseln. Gelegentlich gibt es Weiden oder Äcker. Außer einer kleinen Straße nach rechts geht es über zwölf Kilometer geradeaus, immer durch Wald. Der Sturm ist hier weniger zu spüren. Allerdings liegen immer wieder kleinere Äste auf der Straße, teils mit frischen Blättern.
Nach knapp dreißig Minuten passiere ich das Zentrum von Lüneburg mit der St. Johanniskirche. Nördlich davon liegt das große Verwaltungsgebäude der Stadt, in dem auch die Polizei untergebracht ist. Ich frage mich durch. Schorses Büro würde ich inzwischen finden, das von Inspektor Hansen liegt in einem anderen Stockwerk. Irgendwo lese ich »Dezernat Einbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung«. Vielleicht zählen auch Wölfe juristisch immer noch zu den Sachen und ein Abschuss fällt unter Sachbeschädigung. Mit fünf Minuten Verspätung klopfe ich an die Tür mit Hansens Namensschild.
»Herein.«
Das Büro vor mir ähnelt dem von Schorse. Der Ausblick auf die hohen Bäume am Flüsschen Ilmenau ist ähnlich. An den kräftig bewegten Trauerweiden und hin und her wankenden großen Buchen sieht man deutlich, wie die Sturmböen den Bäumen zusetzen. Anders sind Stil und Ordnung des Büros. Es ist aufgeräumt, wirkt strukturiert und organisiert. Auf dem Schreibtisch aus Nussbaum liegen neben einem Flachbildschirm und einer Tastatur nur drei oder vier Aktendeckel, zwei Stifte und eine FFP-Maske.
Der Inspektor begrüßt mich mit Handschlag. Er sehnt sich, wie die meisten von uns, offensichtlich zurück zu Zeiten von »vor Corona«. Ich weiß, das klingt seltsam, fast wie »vor Christus«.
»Kommen Sie herein«, meint der gemütlich wirkende Mittsechziger und platziert seinen zwar nicht dicken, aber gut genährten Körper in den gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er trägt ein helles Hemd unter einer braunen Strickjacke. »Sie können die Maske auch gerne abnehmen. Ich bin geimpft und bei Ihnen vermute ich das auch.«
Da hat er recht. Im letzten Jahr wurden alle, die es wollten, geimpft. Polizisten und auch Journalisten waren sogar schon recht früh dran. Im Sommer hat man dann das Virus halbwegs unter Kontrolle bekommen. Trotzdem werden Masken noch empfohlen und sind in manchen Bereichen weiterhin Vorschrift. Ich bin jedoch froh, dass ich meine jetzt wegstecken kann. Begegnungen Gesicht zu Gesicht sind mir wesentlich lieber als lediglich Hi in Auge.
Inspektor Hansen schenkt mir, ohne zu fragen, ein Glas Mineralwasser ein. Er wirkt auf mich sofort wie ein ehrlicher Beamter, der viel Erfahrung hat, aber sich selbst als Auslaufmodel einordnet. Neugierig schaut er mich an.
»Sorry«, meint er, »unser Kaffeeautomat streikt. Ich hoffe, ein Wasser tut es auch.«
Brav wie ich bin, bedanke ich mich.
»Was führt Sie zu mir? Mich wundert, dass nun auch unser Nachbarkreis an den Wölfen Interesse findet.«
»Immerhin wurden sie auf dem Gebiet unseres Landkreises gefunden und erschossen – oder?«
»Ja, stimmt schon. Aber wir haben den Fall übernommen, weil die ersten Meldungen hier eingingen und die Kollegen bei euch keine Kapazitäten frei hatten.« Er grinst, ohne überheblich zu wirken. »Verkehrsüberwachung, Vandalismus und Ordnungsdelikte scheinen alle ihre Kräfte zu binden.«
»Und Sie bearbeiten die Tötungen aller vier Wölfe?«
»Richtig. Ich bin für Wilderei genauso zuständig wie für Vergehen gegen den Naturschutz, also ist es mein Fall.«
»Ich habe gelesen, dass alle vier Wölfe mit derselben Waffe erschossen wurden. Stimmt das?«
Hansen lehnt sich zurück und nickt.
»Das stimmt. Welche Waffe genau benutzt wurde, wissen wir allerdings noch nicht. Es war ein Jagdgewehr mit Kaliber 9,3x62, ein Kaliber, das viele Modelle benutzen, aber es war immer dieselbe Waffe.«
»Also haben Sie die Kugeln untersucht?«
»Klar. Die Hülsen haben wir leider nicht gefunden. Der Schütze muss sie mitgenommen haben. Er ist jedenfalls clever. Auch andere Spuren gab es keine.«
Oder ihr habt sie nicht gefunden, denke ich.
»Hat er die Wölfe dann irgendwie angerührt, sich Trophäen abgeschnitten oder so etwas?«
Mein Gegenüber lacht.
»Sie sehen zu viel fern! Nein, hat er nicht. Die Tiere waren intakt, wenn auch teilweise bereits von Nagern, Vögeln oder Wildschweinen angefressen.« Sein Lachen ist sympathisch. »So ist das in der Natur. Fressen und gefressen werden! Der Stärkere siegt. Da dürfen auch die Wölfe für sich keine Ausnahme beanspruchen!«
»Allerdings war hier nicht der Wolf, sondern der Mensch der Stärkere!«
Wieder schmunzelt der Inspektor.
»Möglicherweise steckt in jedem von uns ja auch ein Wolf.«
»Haben Sie rekonstruieren können, von wo aus geschossen wurde?«
»Das war schwierig. In nur zwei von den vier Fällen haben wir es herausgekriegt. Der Jäger, äh der Wilderer, hat dort einen Hochsitz benutzt.«
»Er kannte also die Wege der Wölfe. Es war ein Jäger?«
»Guter Gedanke. Den hatten wir auch schon. Zumal in unserem Land nur Jäger ein geeignetes Gewehr führen dürfen.«
Das