Träume nicht dein Leben. Kate Lillian
tat oder mochte, rechtfertigen müssen – was bisher immer der Fall gewesen war.
Ich stand noch gut fünf Meter vor dem Zelt, da drang das Gespräch der Mädchen hinter mir an meine Ohren. Ich erkannte die Stimmen von Sandra und Lucy, die in meine Stufe gegangen waren. Zum Glück schienen sie mich nicht erkannt zu haben, ansonsten hätten sie mich vermutlich mit großen Augen angeguckt und gefragt, was ich denn hier zu suchen hätte. Bestimmt konnte sich kaum einer in der Stadt vorstellen, dass gerade ich Prinzessin werden wollte. Nur meine Eltern kannten meine geheimsten Wünsche und selbst die respektierten sie nicht – wie mir mein Vater nur allzu klar gemacht hatte.
»Uh, denkst du, er kommt auch hierher?«, fragte Lucy in meine tristen Gedanken. »Stell dir das mal vor: der Prinz in unserem Städtchen!«
»Oh Mann, das wäre echt krass«, erwiderte Sandra. »Mehr als krass wahrscheinlich.«
»Ich würde ja so ausflippen, wenn er in den Laden meiner Mama kommen würde!«
Lucys Mutter besaß einen Kiosk, weshalb sie auch in Sachen Prominenz auf dem Laufenden war. Wobei man kaum noch von Promis sprechen konnte. Wir hatten ein paar berühmte Sänger, Maler und Tänzer nebst den königlichen Familien. Schauspieler fand man höchstens in Theatern, da Filme zu drehen sehr aufwendig war und man das Geld deutlich besser anlegen konnte. In die Wissenschaft zu investieren, war immer lohnenswert, denn nach und nach entwickelte man die technischen Geräte von früher wieder neu. Es war wirklich erstaunlich, wie viel Fortschritt ein weltweiter Krieg zunichtemachen konnte.
Abgesehen davon gab es noch immer die Klimakrise, die man mit den umweltverschmutzenden Gerätschaften und Fabriken aus der alten Welt nicht weiter fördern wollte. Einfach zu dem Zustand vor dem todbringenden Konflikt zurückzukehren, war also ebenfalls keine Möglichkeit – was unser Leben noch ein wenig komplizierter werden ließ.
»Denkst du, sein Bruder wird ihn begleiten?« Sandras hoffnungsvolle Stimme übertönte meine Überlegungen. »Die Art, wie er da so auf seinem Sessel gehangen hat, war echt lässig.«
Ich verdrehte die Augen. Bewarb sie sich denn, um unseren Prinzen – und die vier anderen – kennenzulernen, oder wegen jemandem, den sie nie bekommen würde? Mir erschien es mehr als unwahrscheinlich, dass auch die anderen Königskinder im Volk suchen würden. Ein paar politische Verbindungen waren eher von Nutzen.
Notgedrungen hörte ich mir noch ein paar Minuten das Geplapper der beiden an, dann durfte ich endlich das Zelt betreten. Ich warf beim Hineingehen einen Blick auf den Muskelprotz neben dem Eingang, dessen Anwesenheit mir suspekt erschien. Aber wer wusste schon, was Mädchen tun würden, wenn die Chance auf eine Einheirat in die Königsfamilien bestand?
Unter den Planen stand ein Tisch, hinter dem eine Frau mittleren Alters saß. Sie wirkte mit ihrer großen Brille ziemlich streng, was durch das fehlende Lächeln noch verstärkt wurde. Mit einem Nicken deutete sie auf den Stuhl, der vor dem Tisch platziert war. Eilig setzte ich mich.
Sie schob mir einen Zettel und einen Stift zu. »Ausfüllen.«
Ich griff nach dem Tintenschreiber und beugte mich über das Blatt Papier. Die einzusetzenden Informationen waren ziemlich dürftig. Name, Adresse, Geburtstag, Berufsstand. Ich überlegte einen Moment, bevor ich »Schulabsolventin, bald Studentin« auf die zugehörige Zeile schrieb. Offenbar wollten die Prinzen nicht wissen, mit wem sie es auf ihrer Brautschau zu tun bekommen würden.
Diese Neutralität ließ mich hoffen. Denn freiwillig würde mich wohl keiner auswählen. Ich stach weder optisch noch charakterlich hervor.
Ich hatte kaum Zeit, meine Angaben noch einmal zu überprüfen, da zog mir die Frau den Zettel schon weg und ersetzte ihn durch einen anderen. »Durchlesen. Und dann unterschreiben. Oder auch nicht. Aber dann hättest du gar nicht kommen müssen.«
Irritiert überflog ich die Zeilen: »Hiermit erkläre ich, dass ich mich vollkommen freiwillig für das Connecting bewerbe. Außerdem werde ich die Wahl des Loses akzeptieren, egal, wie sie ausfällt. Und ich versichere, dass ich die Wahl auf jeden Fall annehmen werde, sollte ich gezogen werden. Sollte ich noch nicht volljährig sein, sind meine Eltern mit der Teilnahme einverstanden (Einverständniserklärung liegt bei).«
Der letzte Satz bereitete mir ein wenig Sorgen. Aber mein Vater hatte den nötigen Zettel unterschrieben, der heute morgen zusammen mit einem Info-Flyer in unserem Briefkasten gelegen hatte.
Also setzte ich meine Unterschrift auf die leere Zeile, legte den Stift weg und schob die Einverständniserklärung – die ich bis eben in meiner kleinen Handtasche aufbewahrt hatte – über die Tischplatte. Die Frau warf einen kurzen Blick darauf, bevor sie mich mit einer Handbewegung wegscheuchte. Hastig stand ich auf und verließ das Zelt.
Kaum dass ich draußen war, sahen mich Lucy und Sandra neugierig an. Dann runzelten beide die Stirn. Lucy machte sogar den Mund auf, um etwas zu sagen, da ertönte die ungeduldige Stimme der bebrillten Frau.
»Die Nächste!«
Während Lucy im Zelt verschwand, verließ ich den Marktplatz. Und ausnahmsweise hatte ich dabei meinen Blick nicht auf den Boden gerichtet, sondern nach vorne. Der erste Schritt war gemacht. Jetzt konnte ich nur warten.
2
Die nächsten Tage verliefen relativ ereignislos. Ich besuchte weiterhin die Sommerkurse an meiner alten Schule, die dafür da waren, dass wir uns für das richtige Studienfach entschieden. Geschichte war mein Favorit, aber meinem Vater zuliebe probierte ich auch Wirtschaft aus. Zusätzlich besuchte ich die Literaturklassen, um meinen Horizont kulturtechnisch noch ein wenig zu erweitern. Wahrscheinlich hatte ich wegen all der Bücher, die ich mir bereits aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, eine so blühende Fantasie.
Was zur Zeit nicht allzu gut war, da ich mir ständig ausmalte, dass mein Name gezogen werden würde. Irgendwo in der Stadt warteten all die Bewerbungen darauf, abgeholt zu werden. Wie ich aus den Nachrichten erfuhr, passierte das, während die Prinzen durch die Reiche reisten. In jeder Großstadt wurde Halt gemacht, die Prinzen begrüßten ihre Völker und jemand nahm die Unterlagen aus dem Rathaus mit. Der letzte Halt war stets die Hauptstadt eines Bezirks, wo auch die Ziehung stattfinden würde. Diese wurde live im ganzen Reich übertragen. Was danach mit dem ausgewählten Mädchen passierte, verrieten sie nicht. Aber es würde wohl einen ganz schönen Rummel geben, sodass man sie vermutlich schnell zum Palast der Einheit bringen würde. Dieses neutrale Gebiet befand sich im Süden des Zentralreiches, beinahe an der Grenze zum Südreich. Es entsprach in etwa dem ehemaligen Land Liechtenstein, wie ich aus dem Geschichtsunterricht wusste. Ich war nie auch nur in die Nähe dieser Zone gekommen, wusste jedoch, dass dort regelmäßig die königlichen Konferenzen stattfanden.
Gespannt verfolgte ich die Berichte, die über die Reise von Prinz Stephan gesendet wurden. Zum Glück ging das von unserer Wohnung aus, da heutzutage jeder Haushalt mit einem speziellen Fernsehgerät ausgestattet worden war, das neben dem königlichen Sender nur zwei weitere Programme empfangen konnte: Nachrichten und Dokumentationen. Damit konnte man natürlich keine ganzen Tage füllen, darum war der Apparat oft nur Zierde. Aber in den nächsten Wochen würde sich das dank des Connectings wohl schnell ändern.
Die ersten Berichte über unseren Thronfolger waren noch ziemlich unspektakulär, man sah ihn meistens auf den Marktplätzen, wo er Ansprachen hielt oder ein paar Worte mit dem jeweiligen Bürgermeister wechselte. Manchmal wurde auch sein Zug durch die Stadt gezeigt, wo ihn die Menschen bejubelten. Ich war gespannt, ob er auch zu uns kam. Bis ich das erfahren würde, mussten allerdings noch einige Tage vergehen. Schließlich war unser Bezirk erst der dritte, wenn man von Norden nach Süden durchs Zentralreich reiste.
Auf den Bericht aus Kopenhagen, der Hauptstadt von Bezirk A, war ich besonders neugierig. Dort fand die erste Ziehung statt. Man sah den Mädchen auf dem Marktplatz die Nervosität an, wobei es ja noch nicht einmal sicher war, ob die Kandidatin des Bezirks wirklich in der Menge gefunden werden würde – obwohl die Chance natürlich groß war, denn in den Hauptstädten waren vermutlich die meisten Bewerbungen eingegangen.
Darum wunderte es mich nicht, als ein Kreischen