Träume nicht dein Leben. Kate Lillian

Träume nicht dein Leben - Kate Lillian


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seinen Weg durch die Menge und wurde schließlich vom Thronfolger auf der Bühne in Empfang genommen.

      Liva – so hieß sie – wirkte regelrecht überwältigt, als Prinz Stephan ihre Hand nahm und gen Himmel streckte. Man hörte Jubel, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Schließlich hatte Liva all diesen anderen Mädchen gerade die Chance auf ein Kennenlernen mit den Prinzen genommen. Offenbar gönnten manche Menschen anderen doch noch Erfolge – auch wenn meine Erfahrung etwas anderes sagte.

      Im Bezirk B lief es zu Beginn ähnlich ab. Auch dort fand man die Kandidatin direkt in der Menge. Sie war ein wenig pummelig, hatte dazu kurze Haare. Prinz Stephan begrüßte Jessica genauso herzlich im Wettbewerb wie Liva – im Gegensatz zum Publikum, das eher verhalten reagierte. Anscheinend war das rothaarige Mädchen aus Kopenhagen eine lokale Berühmtheit oder Ähnliches.

      Stephan schien das allerdings nicht zu kümmern, da er beide Kandidatinnen gleich behandelte. Das Connecting mochte ja eine Art Brautschau sein, aber Äußerlichkeiten spielten dabei keine so große Rolle, wie man es für eine Fernsehshow erwartet hätte. Hier hatte jeder die gleiche Chance. Und vielleicht bekam ich meine in wenigen Tagen.

      Doch zuvor würde der Thronfolger des Zentralreiches auch bei uns Halt machen, wie ich schließlich aus dem Radio erfuhr. Zwei Tage danach sollte die Ziehung unseres Bezirks stattfinden. Und dann würde ich endlich wissen, ob ich meine Träume begraben und stattdessen meine Ziele weiterverfolgen musste.

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      Ich stand am Fenster meines Zimmers im zweiten Stock, um vielleicht einen Blick auf den Prinzen zu erhaschen. Wir wohnten nicht weit vom Marktplatz entfernt, die Chance, dass er unsere Straße durchquerte, stand nicht schlecht. Wobei jede der Zugangsstraßen blockiert war, jeder einzelne Bewohner schien heute hinausgekommen zu sein. Nur ich blieb lieber drinnen. Die Stadtversammlungen ließ ich über mich ergehen, weil ich wusste, dass es kein Drängen und Schubsen gab. Dort passierte schließlich nie etwas Aufregendes – von der Verkündung mal abgesehen.

      »Ganz schön laut da draußen«, stellte meine Mutter fest, die schräg hinter mir stand. »Ich frage mich, was es für einen Tumult geben wird, wenn der Prinz erst mal auftaucht.«

      »Die Leute rennen sich über den Haufen«, murmelte ich und ließ meinen Blick über die überfüllte Straße schweifen.

      »Gut, dass du hierbleibst. Ich hätte wirklich Angst um dich da unten.« Meine Mama legte mir eine Hand auf die Schulter und streckte ihren Kopf ebenfalls aus dem Fenster. »Wobei es bei der Ziehung bestimmt auch nicht viel anders zugehen wird.«

      Ich spannte automatisch meine Schultern an. Sie hatte recht. Bei der Übertragung der Ziehung auf dem Marktplatz würde ich mich in die Masse stellen müssen. Schließlich wurde die ausgewählte Kandidatin sofort mit einer Kamera eingefangen. Also würde ich meinen inneren Schweinehund überwinden müssen.

      »Übrigens denke ich, dass du gute Chancen hast.«

      Erstaunt drehte ich mich zu meiner Mutter um. Aus vielen tausend Mädchen gezogen zu werden, würde ich nicht gerade als gute Chance bezeichnen.

      »Ich meine, den Prinzen zu sehen«, erklärte sie lächelnd, als sie meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. »Der Weg vom E-Bahn-Halt zum Marktplatz führt direkt durch unsere Straße.«

      »Hoffentlich gehen sie auch den direkten Weg.« Ich spähte über die wartenden Menschen hinweg zum Anfang der Straße, den ich jedoch von meiner Position aus nur vage erkennen konnte. Ich wünschte mir fast, ich könnte auch die E-Bahn-Station sehen, aber die war zu weit weg. Die Ankunft des Gefährts würde ich auch nicht hören können, denn im Gegensatz zu den Bahnen von früher fuhren die elektrischen heutzutage beinahe lautlos. Die Solarzellen, die überall angebracht waren, sorgten dafür, dass sie sich auf den Schienen bewegten. Strom war unerlässlich in unserer Gesellschaft, da alle anderen Ressourcen entweder aufgebraucht oder verboten waren. Zu viel Schaden war vor allem durch die Atomkraft angerichtet worden.

      Als in der Ferne tosender Jubel aufbrandete, begann Aufregung in mir hochzusteigen. »Er ist angekommen, oder?«

      »Ja, ich glaube schon.« Meine Mutter tätschelte mir noch einmal die Schulter, dann ließ sie mich alleine.

      In meinem Kopf wirbelten die Gedanken nur so umher. Ich malte mir aus, welche Wege von der E-Bahn-Station bis zum Marktplatz führten. Es waren nicht viele. Und unsere Straße war eine der breiteren, also vielleicht entschieden sie sich wirklich dafür. Nur wie sollten sie sich einen Weg durch die Menge bahnen?

      Einige Minuten später bekam ich eine Antwort. Um die Kurve am Anfang der Straße bogen bewaffnete Männer, die ein Rechteck bildeten. In dessen Mitte machte ich kurz darauf einen Rollwagen aus, der mit Sicherheit auch elektrisch betrieben wurde. Er besaß eine Art Plattform in erhöhter Position. An deren Rand hatten sich weitere Soldaten positioniert. Und mittendrin erspähte ich noch eine Person – die zu winken schien.

      Es sah ähnlich aus wie bei den Aufzeichnungen, die ich bis jetzt im Fernsehen verfolgt hatte. Nur passierte das hier direkt vor meiner Nase.

      Mein Herz pochte immer stärker, je näher der Tross kam. Ich erkannte die typischen Uniformen der Soldaten des Zentralreiches, die in der gleichen dunkelroten Farbe leuchteten wie unser Banner. Die Männer sorgten dafür, dass niemand zu nah an den Wagen, der nicht einmal in Schrittgeschwindigkeit fahren konnte, herantrat. Ich wusste, wie uneben der Weg war, also holperte es bestimmt ganz schön stark. Umso verwunderlicher war, dass der Thronfolger scheinbar mühelos dort oben stehen blieb. Er drehte sich in verschiedene Richtungen und winkte den Leuten zu, die seinen Namen riefen, klatschten oder kreischten.

      Ich beugte mich weiter aus dem Fenster, um ihn noch genauer erkennen zu können. Meter für Meter rollte er auf seinem Wagen auf unser Wohnhaus zu. Irgendwann konnte ich sogar Prinz Stephans Gesichtsausdruck ausmachen. Er lächelte und es wirkte absolut ehrlich. Genau wie bei seinen Eltern, als ich sie erstmals im Fernsehen gesehen hatte. Seine Abstammung war eindeutig, sein Auftreten wirkte professionell, obwohl er bis jetzt kaum Erfahrung mit der Öffentlichkeit gemacht hatte.

      Ich beobachtete mit trockenem Mund, wie der Wagen mit dem Prinzen langsam unter mir vorbeirollte. Sein Fokus lag natürlich auf den Menschen, die ihn auf der Straße anhimmelten. Darum versprach ich mir auch nicht sehr viel mehr von diesem Besuch, als ihn von oben sehen zu können. Doch das war schon Ehre genug für mich. Womöglich kam ich ihm nie näher als in diesem Moment.

      Wobei es anscheinend unmöglich war, ihm überhaupt näher zu kommen. War das ein Plastikkasten um ihn herum? Wozu sollte der denn gut sein?

      Noch während ich darüber nachdachte, flog die erste Tomate gegen den Kasten und prallte mit einem dumpfen Pochen daran ab. Vor Schreck stieß ich einen spitzen Schrei aus. Keine Sekunde später war es mir, als würde der Blick des Thronfolgers ganz kurz an der Hauswand entlang zu mir hinauf schweifen. Als würde er mich einen Wimpernschlag lang direkt ansehen. Und mich als Individuum erkennen, trotz all der Leute um ihn herum. Trotz der Tatsache, dass weiteres Gemüse und dazu rohe Eier in seine Richtung geschmissen wurden – was ihn überhaupt nicht zu kümmern schien.

      Aber vermutlich war dieser Blickkontakt reines Wunschdenken, denn seine ganze Aufmerksamkeit wurde von der Masse um ihn herum vereinnahmt, aus der sich einzelne wütende Rufe abhoben.

      »Sie machen unser Reich lächerlich!«

      »Diese Show ist doch nur Farce!«

      »Kümmern Sie sich lieber um Wichtigeres!«

      War das etwa in den anderen Bezirken, in den anderen Städten, auch schon passiert und aus den Übertragungen herausgeschnitten worden? Wie konnte eine Veranstaltung im Namen der Liebe und des Friedens nur so großen Unmut in der Bevölkerung auslösen?

      Während ich dem Prinzen hinterher sah, wie er in Richtung Marktplatz verschwand, fragte ich mich erstmals, ob ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Womöglich hatte mein Vater ja recht. Ich träumte von einem Leben voller Bewunderung – aber konnte ich auch mit Hass und Ablehnung umgehen?


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