Die Berlinerin. Ilka-Maria Hohe-Dorst
einem Buch über die Symbolik von Farben gelesen zu haben, dass einige Sprachen dieser Welt nicht zwischen Blau und Grün unterscheiden, sondern darin die gleiche Farbe sehen, jedoch in unzähligen Nuancen.
Die Frau lächelte Erik zu, und er lächelte einen kurzen Moment zurück, doch lange genug, um ihre grazile Gestalt, ihren blassen Teint und die Sommersprossen auf ihrer Nase wahrzunehmen. Ihr brünettes Haar hatte einen leichten, kaum wahrnehmbaren Rotstich. Ein bisschen erinnerte sie ihn an die französische Schauspielerin Isabelle Huppert.
Als die Bedienung an den Tisch der Frau trat, um ihr das bestellte Menü zu servieren, wünschte Erik guten Appetit und wandte sich wieder seinem Teller zu. Er aß zu Ende, trank seinen Wein aus und winkte der Bedienung, dass er bezahlen wolle.
Ihm war nicht bewusst, welcher Teufel ihn ritt, als er Nadjas Kleid nahm und es über die Rückenlehne eines der freien Stühle am Tisch der Frau schwang. „Es scheint für Sie gemacht zu sein. Bestimmt sehen Sie darin fantastisch aus.“
Schnellen Schrittes, als treibe ihn die Sorge, es sich im letzten Moment anders zu überlegen und das Kleid wieder an sich zu nehmen, verließ er das Restaurant. Draußen war ihm, als habe ihm die Frau etwas hinterhergerufen, nicht laut, um kein Aufsehen zu erregen, sondern gerade noch hörbar. Doch er ignorierte es und ging weiter. Erst nach einer Weile begann er sich zu fragen, warum er ihr Nadjas Kleid nur deshalb überließ, weil es ihr gefallen hatte. Welches Recht hatte er überhaupt, über etwas zu verfügen, das nicht sein Eigentum war? Und dennoch hatte er die tiefe Überzeugung, etwas Richtiges und Sinnvolles getan zu haben. Er konnte nur keine Antwort auf die Frage finden, warum.
Und was sollte er Nadja beichten, wenn er ohne das Kleid nach Hause kam?
Wie befürchtet, lief seine Ausrede ins Leere. „Wieso haben sie mein Kleid nicht gefunden? Sie haben eine Woche Zeit gehabt, also wieso sollte es noch nicht fertig sein?“
„Es war halt nicht da. Weshalb ist gerade dieses Kleid so wichtig für dich?“
„Mein Gott, bist du wirklich so blöd? In diesem Kleid habe ich dich kennengelernt. Und ich hab’s getragen, als wir uns zum ersten Mal küssten. Weißt du das nicht mehr?“
Erik strengte seinen Kopf an, doch er hatte keinen blassen Schimmer, was Nadja trug, als er sie zum ersten Mal küsste. Eher hatte ihn beschäftigt, was unter dem Kleid dieser hinreißend schönen Studentin mit der atemberaubenden Figur zu erkunden war. Als er allmählich begriff, was ihr Herz bewegte, verspürte er Schuldgefühle. „Doch, doch, Schatz. Alles gut. Ich gehe morgen noch einmal zur Reinigung und frage nach. Vielleicht ist es ja inzwischen aufgetaucht.“
Nadja schnaubte ihn an. „Lass es. Ich gehe selbst hin. Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen. Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“
Der Vorwurf versetzte Erik einen Stich, doch er verzichtete darauf, aufzuzählen, was er alles erledigt hatte, denn Nadja hörte seit langem nur unkonzentriert, wenn überhaupt noch zu, und schon gar nicht kam ihr ein Wort der Anerkennung über die Lippen.
Er schützte Bedauern und Mitgefühl vor, als sie von ihrer Exkursion zur Reinigung unverrichteter Dinge zurückkam: Das Kleid sei abgeholt worden, habe man ihr gesagt, aber damit habe sie sich nicht abspeisen lassen und gefordert, herauszufinden, wer es unberechtigterweise mitgenommen hat. Das könne sie wohl erwarten, denn schließlich müsse man doch durch die Folie gesehen haben, ob man das richtige oder falsche Kleidungsstück ausgehändigt bekommen hat. Man habe ihr versichert, weiter danach zu forschen und, sollte man nicht fündig werden, Schadenersatz zu leisten. Sie habe erwidert, damit sei ihr nicht gedient, denn sie hänge an dem Kleid, weil es mit Erinnerungen verknüpft sei, und wenn es nicht mehr auftauchen sollte, könne man ihr den Buckel runterrutschen, und natürlich werde sie sich dann eine andere Reinigung ihres Vertrauens suchen.
Erik war überrumpelt, als sie nach diesem Schwall der Empörung in Tränen ausbrach und sich an seine Brust warf: „Es war unser Kleid!“
Eine Welle der Zärtlichkeit überkam ihn. Er strich über Nadjas Haar, hob ihr Kinn und küsste ihr die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Gefühlsoffenheit, in die er sich während ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität verliebt hatte, die aber seit Antritt ihrer Stelle bei dem Unternehmensberater unter ihrer Arbeitswut nach und nach verschüttet gegangen war, schien an die Oberfläche zurückzukehren. Er spürte Lust in sich aufsteigen und presste Nadja enger an sich. Wann hatten sie eigentlich zuletzt miteinander geschlafen?
Aber unvermittelt stieß sie ihn weg und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen: „Schon gut, Erik, irgendwann muss man sich mit der Realität abfinden. Ich bin ja kein Kind mehr.“
Mea culpa, dachte Erik. Wie hatte er Nadja durch eine spontane Handlung, für die er keine Erklärung hatte, derart verletzen können?
Er musste seinen Fauxpas wiedergutmachen und das Kleid unbedingt zurückholen.
Aber wie?
Der Zug
„Es war unser Kleid!“
Nadjas Kummer klang in Erik nach, doch es fiel ihm schwer, sich in sie hineinzuversetzen, da ihm jede Form von Sentimentalität fremd war. Sogar vom Hab und Gut seiner Mutter hatte er sich nach ihrer Beerdigung ohne Bedauern trennen können. Er vertrat den Standpunkt, dass eine devote Wertschätzung von Erbstücken einen geliebten Menschen nicht ersetzen kann. Ihm genügte die Kostbarkeit seiner Erinnerungen, und jedes Mal, wenn er besonders intensiv an seine Mutter dachte, empfand er eine tiefe Traurigkeit.
Aber Nadja war anders als er, das hatte er falsch eingeschätzt. Sie hatte enttäuscht einen leeren Pappkarton geschlossen und dabei gesagt, sie habe das Kleid zur Reinigung gebracht, obwohl es ihr inzwischen zu eng geworden war, weil sie es sauber und ordentlich habe wegpacken wollen, wie es Bräute nach der kirchlichen Trauung mit ihrem Hochzeitskleid zu tun pflegen.
Auch wenn sie so getan hatte, als könne sie sich mit dem Verlust des Kleides abfinden, falls es wirklich nicht mehr auftauchen sollte, stand ihr der Gram darüber in den Augen und nährte Eriks schlechtes Gewissen. Die Idee, eine Anzeige aufzugeben, um die fremde Frau ausfindig zu machen, verwarf er, denn hätte Nadja zufällig davon Wind bekommen, wäre seine Lügengeschichte aufgeflogen. Stattdessen ging er jeden Mittag von der Jahnstraße in die Hanauer Innenstadt und trottete die Salzstraße entlang bis zu dem großen Platz vor dem Rathaus, auf dem das Brüder-Grimm-Denkmal steht und zweimal in der Woche, mittwochs und samstags, der Markt abgehalten wird. Von dort bog er nach rechts in die Fahrstraße ein und lief bis zum Freiheitsplatz, dann die Hammerstraße nach Süden bis zur Römerstraße und zum Steakhaus „Römerhof“, immer in der Hoffnung, die fremde Frau irgendwo bei einem Stadtbummel oder in einem Straßencafé zu entdecken.
Eine Woche lang schaute er vergeblich nach ihr aus, dann verlor er die Zuversicht, ihr noch einmal zu begegnen, und so gab er die Suche auf.
Am Samstag darauf machte er sich auf seine gewohnte Tour für den Wochenendeinkauf. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus wimmelte es vor Menschen, die sich um die Stände drängten, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen oder bei einem der Winzer ein Glas Wein zu trinken. In der Römerstraße, die südlich am Markt vorbeiführt, hatte sich vor der Tiefgarage eine lange Autoschlange gebildet, die ruckweise in das Gebäude kroch.
Erik tauchte in das Marktgetümmel ein. Er sollte einen Kopfsalat, eine Gurke („sie darf getrost krumm sein“), Äpfel, Weintrauben und ein Bauernbrot nach Hause bringen. An verschiedenen Ständen blieb er stehen, um die Qualität der Angebote zu prüfen und die Preise zu vergleichen.
Er hatte sich noch nicht entschieden, bei welchen Händlern er kaufen wollte, als ihm eine markante Farbe in den Blickwinkel fiel, die sein Augenmerk zum Verkaufswagen eines Metzgers lenkte. Dort waren nur wenige Menschen unterwegs, so dass Erik freie Sicht hatte und die Frau deutlich erkennen konnte, die sich von dem Metzger bedienen ließ. Ihr Anblick kam für Erik so unerwartet, dass er reglos, als sei er in Trance, zu ihr hinüberstarrte. Nadjas blaugrün schillerndes Kleid passte dieser Frau wie maßgeschneidert, und wie Erik prophezeit hatte, sah sie hinreißend darin aus. Sie war größer, als er sie im Steakhaus geschätzt