Die Berlinerin. Ilka-Maria Hohe-Dorst

Die Berlinerin - Ilka-Maria Hohe-Dorst


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      „Sie interessieren mich.“

      „Das ist wirklich eine originelle, erschöpfende Begründung.“

      Erik ignorierte die Ironie in Romys Worten, nicht willens, sich den Instanzen zu beugen, die man als Vernunft und Verstand bezeichnet. „Jedenfalls fahre ich nicht gleich morgen nach Hanau zurück. Ich bleibe in Berlin, wenigstens für ein paar Tage. Außerdem will ich Sie zum Abendessen einladen.“

      Romy schüttelte missbilligend den Kopf. „Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Mr. Crazy. Ich kenne Sie erst seit wenigen Stunden und muss völlig neben der Spur sein, mich überhaupt noch länger mit Ihnen abzugeben.“ Entschlossen packte sie den Griff ihres Rollkoffers und ging los, so dass Erik nichts anderes übrigblieb, als hinter ihr herzutrotten.

      An der Westseite des Hauptbahnhofs nahmen sie ein Taxi, dessen Fahrer ein halsbrecherisches Tempo einlegte, um möglichst viele Grünphasen zu nutzen. Innerhalb von fünfzehn Minuten erreichten sie die U-Bahn-Station Schönhauser Allee im Bezirk Prenzlauer Berg, bogen in die Wichertstraße ein und hielten nach wenigen Metern vor einem Altbau.

      Erik folgte Romy in den dritten Stock. Sie schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und wurde, kaum dass sie einen Fuß in den Flur gesetzt hatte, mit dem eindringlichen Miauen einer graugetigerten Katze begrüßt, die ihr um die Beine strich und den Kopf an ihren Waden rieb.

      „Hallo, Lilly, mein Liebling. Da bin ich wieder.“

      Romy stellte ihren Koffer ab und nahm die Katze auf den Arm. Doch als Erik in den Flur trat, fuhr Lilly erschrocken ihre Krallen aus, stemmte sich gegen Romys Brust, sprang ihr vom Arm und flüchtete ins Wohnzimmer.

      „Sie braucht eine Weile, sich an Fremde zu gewöhnen. Erst recht, wenn es sich um Männer handelt. Tiefe Stimmen machen sie misstrauisch.“

      „Sie haben die Katze tagelang allein gelassen?“

      „Wofür halten Sie mich, Mr. Crazy? Lilly nimmt in meinem Leben den ersten Platz ein. Sie wird, wenn ich weg bin, von einer Nachbarin versorgt. Gehen Sie ins Wohnzimmer und setzen Sie sich. Ich mache uns Kaffee. Wie trinken Sie ihn?“

      „Schwarz.“

      „Genau wie ich.“ Mit diesen Worten entschwand Romy in die Küche.

      Erik nahm auf der Couch Platz und sah sich im Wohnzimmer um. Es gab nur wenige Möbel, modern, hell und kühl im Design, dafür allerlei Dekorationsstücke und Schnickschnack: ein Schaukelpferd aus Holz, dessen Farben an vielen Stellen abgeblättert war; ein alter Schlitten, der als Blumenbank diente; eine dreibeinige Studiolampe, wie Beleuchter sie für Filmaufnahmen verwenden; eine chinesische Bodenvase mit Baumwollzweigen, an denen noch die weichen, faserigen Kugeln hingen. Auf einem Hängeregal waren vor den Bücherrücken Figuren und Figürchen aufgereiht, wahrscheinlich Reisesouvenirs und Erinnerungen an die Kindheit. Jede Menge Katzenfiguren: Romy war zweifellos eine Katzennärrin.

      Erik fiel ein silberner Bilderrahmen ins Auge, der ganz oben auf dem Hängeregal stand. Er enthielt das Foto eines dunkelhaarigen, gutaussehenden Mannes mittleren Alters, dessen Anblick Erik ein mulmiges Gefühl verursachte.

      „So, hier kommt der Kaffee.“ Romy stellte das Tablett mit den gefüllten Kaffeetassen und einer Schale mit Schokoladenkeksen auf dem Clubtisch ab. Erik nahm einen Keks und biss hinein. „Sie sind verheiratet?“

      Romy lachte, als habe er einen Witz gemacht. „Ich? Wie kommen Sie darauf? Sieht meine Wohnung aus, als gäbe es hier noch jemanden außer mir? Abgesehen von Lilly.“

      „Aber das Foto … dort oben auf dem Bücherregal …“

      Im nächsten Moment wich die Unbekümmertheit aus Romys Gesicht, und sie senkte die Augen. „Mein Vater“, flüsterte sie. „Er ist schon lange tot. Ich war zwölf Jahre alt, als er starb. Er war achtunddreißig.“

      Erik schwieg, sauer auf sich selbst, dass er mit seiner Neugier die Stimmung getrübt hatte. Aber er wollte nicht nur, sondern musste wissen, ob es in Romys Leben einen Mann gab, eine Frage, die ihm bis zur Konfrontation mit dem Foto nicht in den Sinn gekommen war.

      Stumm tranken sie ihren Kaffee. Romy stellte die leeren Tassen auf das Tablett zurück und stand auf. „Ich hole Nachschub. Nach der langen Fahrt ist mir danach.“

      Als sie zurückkam, hatte sie außer den Tassen mit frischem Kaffee zwei gefüllte Cognacschwenker auf dem Tablett. „Sie trauen sich nicht, danach zu fragen, warum mein Vater so jung gestorben ist, nicht wahr.“

      „Ich will Ihnen nicht weh tun.“

      „Das können Sie gar nicht. Es tut weh, immer, Tag für Tag.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie freiwillig fortfuhr. „Er war bei der Polizei. Schon als Kind hatte er davon geträumt, Polizist zu werden. Er liebte seinen Beruf. Eines Tages klingelten zwei Kollegen an unserer Tür und sagten meiner Mutter, dass er während eines Einsatzes erschossen wurde.“

      „Sie hingen an Ihrem Vater?“

      „Sehr. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man einen Menschen verliert, den man über alles liebt? Den man für das Beste in seinem Leben gehalten hat?“

      Erik nickte. „Bei mir war es die Mutter. Ein Autounfall.“

      Romys Augen wurden feucht, aber sie hatte sich im nächsten Moment wieder im Griff. „Das tut mir leid“, murmelte sie und nahm die beiden Cognacschwenker mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit vom Tablett. „Hier, nehmen Sie. Den können wir jetzt gebrauchen.“

      Während sie ihren Cognac nippten, tauchte die Abenddämmerung das Zimmer langsam in ein Halbdunkel. „Haben Sie ein Mobilphone dabei?“ Als wisse sie die Antwort bereits, setzte Romy ihren Schwenker auf das Tablett zurück und griff nach dem Festnetzapparat auf dem Beistelltisch.

      Erik schüttelte den Kopf. „Liegt zu Hause. Bei kurzen Wegen brauche ich es nicht.“

      „Von kurzen Wegen kann inzwischen keine Rede mehr sein, Mr. Crazy.“ Entschlossen hielt sie ihm das schnurlose Telefon hin. „Es ist neun Uhr vorbei, und Ihre Freundin macht sich bestimmt Sorgen. Sagen Sie ihr, wo sie stecken und dass Sie morgen nach Hause kommen werden.“

      Erik schüttelte energisch den Kopf. „Ich bleibe in Berlin. Und anrufen kann ich morgen noch.“

      „Sie Sturkopf! Ist Ihnen denn nicht klar, was Sie auslösen können?“

      „Was denn?“

      „Ihre Freundin wird überall anrufen und nach Ihnen fragen, aber niemand weiß etwas. Also wird sie die Polizei alarmieren und Sie als vermisst melden. Vielleicht hat sie es bereits getan und eine Fahndung ausgelöst. Nicht nur Nadja, sondern alle ihre Freunde, Bekannte und Familienmitglieder sind beunruhigt und werden …“

      „Hören Sie auf!“

      Zornig warf sie das Telefon neben Erik auf die Couch. Als er es nach einigem Zögern in die Hand nahm, stellte sie die leeren Tassen und die beiden Cognacschwenker auf das Tablett und begab sich damit in die Küche, um die Diskretion zu wahren. Erik tippte seine Hanauer Festnetznummer ein und hoffte inbrünstig, Nadja möge nicht zu Hause sein.

      Sie weinte. „Wo steckst du? Ich habe mir deinetwegen fürchterliche Sorgen gemacht. Gerade wollte ich die Polizei anrufen.“

      Mit allem hatte er gerechnet, mit einem Wutanfall, Vorwürfen, Drohungen, Unterstellungen – aber nicht mit angstvollem Schluchzen. Das passte nicht zu Nadjas Temperament. Er war von ihrer Reaktion dermaßen überrascht, dass es ihm die Sprache verschlug.

      „Erik?“

      Er nahm sich zusammen. „Tut … tut mir leid, Schatz. Du musst nicht weinen. Mit mir ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass ich … Also, ich bin in Berlin.“

      Einige Sekunden lang hörte er nur Nadjas Schniefen, ehe sie konsterniert fragte: „Berlin? Was machst du denn in Berlin?“

      Erik beherzigte Romys Ratschlag, die Wahrheit zu sagen. „Ich bin einer Frau nachgegangen.“


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