Die Berlinerin. Ilka-Maria Hohe-Dorst
Sie schwiegen eine Weile. Erik schaute wieder zum Fenster hinaus, und während er die sonnenbeschienene Landschaft unter dem blauen, wolkenfreien Himmel in sich aufnahm, überkam ihn ein seit langem nicht mehr gekanntes Gefühl der Freiheit.
„Sie können in Fulda aussteigen und zurückfahren“, nahm Romy den Faden wieder auf. „Ehe Ihre Familie eine Vermisstenanzeige aufgibt.“
Erik sah sie an und schüttelte den Kopf. „Ich habe bis Berlin gelöst, und so einfach werden Sie mich nicht wieder los.“
„Ich fürchte, darüber werden Sie noch einmal nachdenken müssen, Mr. Crazy. Wem gehörte eigentlich das Kleid, bevor Sie es für mich vom Himmel fallen ließen?“
„Meiner Lebensgefährtin. Nadja. Sie ist darüber unglücklich und hat sich mit den Leuten von der Reinigung angelegt. Weil ich mich bei ihr damit rausgeredet hatte, man hätte es nicht finden können.“
Romy schwieg eine Weile. Sie schien beeindruckt zu sein, als habe sie eine wild konstruierte Lügengeschichte erwartet, die ihr einen plausiblen Grund unterjubeln sollte, weshalb Erik das Kleid ihr überlassen hatte und ihr eine Woche später bis in den Zug gefolgt war, vielleicht Floskeln wie „meine Frau und ich verstehen uns nicht mehr“ oder „sie hat den Fummel nur noch getragen, um andere Männer anzumachen“ oder „ich bin gerade Single, und das Kleid stammt noch von einer Verflossenen“. Doch offensichtlich nahm sie Erik beim Wort. „Zwischen Ihrem Mädel und Ihnen scheint es nicht mehr zu stimmen.“ Erik antwortete nicht. „Sie haben recht, Mr. Crazy, es geht mich nichts an. Wenn wir in Berlin sind, bekommen Sie das Kleid zurück und können es nach Hause mitnehmen. Ich werde Ihnen die Rückfahrt bezahlen, das fällt für mich unter abrechenbare Spesen. Sie haben mir eine wundervolle Geschichte geliefert, die ich aufschreiben und bei einem der Zeitungsverlage, für die ich arbeite, unterbringen kann.“
Erik hätte am liebsten aufgeschrien: Ich will das Kleid gar nicht zurückbringen, diesen Fetisch des ersten Kusses, dieses nostalgische Etwas, das für mich jede Bedeutung verloren und keine Versprechung gehalten hat, an das ich mich nicht einmal erinnern könnte, wenn Nadja es nicht in die Reinigung gebracht und damit dieses ganze Drama ausgelöst hätte. Ich wollte, sie hätten es in der Reinigung wirklich nicht gefunden. Ich wünschte, mit diesem Kleid wäre auch Nadja aus meinem Leben verschwunden …
Bei seinem letzten Gedanken erschrak Erik vor sich selbst. Er verwirrte ihn, und gerne wäre er ihn wieder losgeworden. Doch wie eine Gewehrkugel war er in sein Gehirn eingedrungen und steckte darin fest. Da war sie also, die Erkenntnis, die er zu ignorieren versucht hatte, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, sich ihr zu stellen. Weil er nicht den Mut hatte, mit Nadja Schluss zu machen und ihr das Herz zu brechen. Weil er nicht wusste, wie sein Leben ohne sie weitergehen sollte, mittellos wie er war.
Das seien Phasen, wie sie in jeder Beziehung vorkommen, hatte er sich jedes Mal beschwichtigt, wenn er sich unglücklich fühlte und ihn bei der Vorstellung, sein Leben wie jetzt weiterführen zu müssen, der blanke Horror überfiel. Aber das Kleid, dieses vermaledeite Kleid! Wie der Schlüssel zu einer verbotenen Tür hatte es einen Raum geöffnet und Erik gezwungen, einzutreten und das darin Verborgene anzuschauen. Seine spontane Handlung, es zu verschenken, war mehr als eine Laune gewesen, mehr als die Bewunderung für eine attraktive Frau, die er gar nicht kannte: Es war eine Symbolhandlung gewesen, erwachsen aus einer in Eriks Unterbewusstsein schlummernden Wahrheit, die sich ihm jetzt glasklar offenbarte.
Er wollte kein Hausmann mehr sein, sich nicht jeden Tag wie ein Laufbursche in die Stadt schicken lassen, nicht mehr mit ansehen, wie Nadja abends ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kam, kaum ein Wort mit ihm wechselte, todmüde ins Bett fiel und ihn allein vor dem Fernsehgerät sitzen ließ. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er nie wieder von jemandem abhängig sein wollen, aber genau das war ihm passiert. So schleichend, dass er es anfangs nicht bemerkt hatte. Doch inzwischen war es ihm bewusst geworden, und er hatte diesen Zustand satt, restlos satt. Das war die unbequeme, nackte und kompromisslose Wahrheit.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Romys Stimme schien von weit her zu kommen. Erik nickte kurz. „Worüber haben Sie denn so intensiv nachgedacht? Sie sahen einen Moment lang ziemlich grimmig aus.“
„Ich dachte darüber nach, was ich Nadja erzählen soll, wenn ich nach Hause komme“, log Erik. „Weshalb ich so lange weg war. Nichts Verrücktes, sondern etwas, das sie mir abnehmen kann.“
„Knifflige Sache, scheint mir.“
„Haben Sie eine Idee?“
„Nein, aber einen Rat: Sagen Sie Ihrer Nadja, in der Reinigung habe man einen Fehler gemacht und das Kleid der falschen Kundin ausgehändigt, Sie seien dann zufällig der Frau begegnet, die es getragen hat, und ihr gefolgt, um es zurückzuholen.“
„Bis nach Berlin?“
„Wohin denn sonst? Oder was tun Sie gerade?“
„Sie haben gut spotten! Nadja wird mich in Stücke reißen, wenn ich ihr das gestehe. Haben Sie keine Idee auf Lager, die weniger erklärungsbedürftig ist?“
„Besser nicht, Herr Durante. Die beste Idee ist die Wahrheit, denn an ihr wird am meisten gezweifelt. Das weiß ich aus Erfahrung. Zu Hause werden Sie eine Feuerprobe zu bestehen haben, darauf sollten Sie sich gefasst machen. Also fangen Sie nicht mit Schwindeleien an, in die Sie sich nur verstricken würden. Erzählen Sie Nadja einfach, wie es wirklich gewesen ist, und zwar, so oft sie will. Sie wird immer die gleiche Geschichte hören, weil sie wahr ist.“
Erik dachte eine Weile über Romys Worte nach, ehe er auf sie einging. „Hört sich ziemlich klug an, Romy Bonero. Und schließlich: Was ist denn schon passiert?“
Prenzlauer Berg
Erik und Romy standen auf dem Washington-Platz vor dem modernen Bau des Berliner Hauptbahnhofs, der die Stelle des ehemaligen Lehrter Bahnhofs eingenommen hatte. Sobald der Strom der Reisenden sich aus dem Gebäude ins Freie ergossen hatte, verlor er sich auf dieser riesigen Fläche in Richtung Südost, denn vor allem für die jugendlichen Rucksacktouristen war es wegen der zentralen Lage des Hauptbahnhofs keine Anstrengung, alle Ziele im Herzen von Berlin Mitte zu Fuß zu erreichen und somit das Fahrgeld für die Schnellbahn zu sparen.
„Und was jetzt, Mr. Crazy?“ Romys Tonfall hatte nichts von ihrem milden Spott eingebüßt.
Erik hob die Schultern. „Keine Ahnung.“
„Habe ich mir gedacht. Wieviel Geld haben Sie noch?“
„Nicht viel, aber ich kann jederzeit Bargeld vom Automaten abheben oder mit meiner EC-Karte bezahlen.“
„Sehr schön. Wir nehmen jetzt ein Taxi zum Prenzlauer Berg, und dann suchen wir für Sie ein Hotel. Morgen früh können Sie das Kleid Ihrer Freundin bei mir abholen. Was Sie ihr zu Hause erzählen können, wissen Sie ja bereits.“
Erik zupfte sich am Ohrläppchen. „Bis auf eine Kleinigkeit, über die ich nochmal gegrübelt habe.“
„Und die wäre?“
„Jeder Kunde einer Reinigung kann durch die Folie sehen, was er ausgehändigt bekommt. Jedenfalls war das Nadjas Überlegung, und wenn ich darüber nachdenke, hatte sie recht. Eine Verwechslung ist praktisch ausgeschlossen. Also wie soll ich ihr plausibel erklären, dass Sie es trotzdem in der Reinigung angenommen haben?“
Romy sah ihn spitzbübisch an. „Habe ich doch gar nicht, Mr. Crazy.“
Erik rollte die Augen. „Natürlich nicht, aber …“
„Sagen Sie ihr, mir habe das Kleid besser gefallen als mein eigenes, und zufällig hatte es meine Größe.“
„Ich weiß nicht recht. Das klingt ziemlich weit hergeholt. Haben Sie keine andere Idee, die glaubhafter klingt?“
„Zufällig gerade nicht. Sie müssen sich wohl selbst etwas einfallen lassen, Mr. Crazy. Zeit genug haben Sie ja während der Rückfahrt.“
„Ich fahre nicht