Die Berlinerin. Ilka-Maria Hohe-Dorst

Die Berlinerin - Ilka-Maria Hohe-Dorst


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und in Seidenpapier eingeschlagen, damit es beim Transport nicht zerknautscht.“

      Mit einem gemurmelten Danke nahm Erik den Karton entgegen und stellte ihn hochkant auf das Fensterbrett neben die Blumenvase, während sich Romy wieder hinsetzte und in ihr Toastbrot biss. „Ihr Taxi kommt um 12:30 Uhr, Sie haben also noch jede Menge Zeit. Der Zug nach Frankfurt geht kurz nach 13 Uhr. Er wird höchstwahrscheinlich pünktlich sein, jedenfalls gibt es auf der Internet-Seite der Bahn bis jetzt keinen Verspätungsalarm. Außerdem habe ich zwei Sitzplätze reserviert, damit Sie für sich bleiben können. Das ist Ihnen hoffentlich recht.“

      Erik schnitt vom Camembert eine Ecke ab und spießte sie mit der Messerspitze auf, ein bisschen zu heftig, als sei das Stückchen Käse ein lebendiges, aber feindliches Wesen, das den Tod verdiente. „An alles gedacht, hm? Sie gäben bestimmt eine tüchtige Sekretärin ab.“ Er hatte sich nicht bemüht, dem sarkastischen Ton seiner Worte einen humorvollen Anstrich zu geben.

      Romy zog irritiert die Brauen zusammen. „Wieso? Was meinen Sie mit ‚tüchtig‘?“

      „Na, so eine, die mit Vergnügen und Perfektion für ihren Boss Geschäftsreisen bucht, damit sie ihn los ist und ihre Ruhe hat.“

      „Warum sagen Sie das?“

      „Weil es wahr ist. Ich bin Ihnen unsympathisch, geradezu lästig. Sie können es gar nicht erwarten, mich loszuwerden, und bis dahin inszenieren Sie ein perfektes Frühstückstheater und quälen sich durch ein belangloses Geplauder, um uns einigermaßen bei Laune zu halten. Warum haben Sie mir nicht einfach den Pappkarton in die Hand gedrückt und mich zum Teufel gejagt?“

      Eine leichte Röte legte sich über Romys Gesicht. Sie senkte den Blick und erwiderte nichts. Erik wertete ihr Schweigen als Bestätigung, dass er ihre Gedanken richtig erraten hatte, legte das Messer mit dem Stück Camembert auf seinen Brotteller und erhob sich. „Schon gut, Romy Bonero. Bestellen Sie das Taxi ab. Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof. Das sollte in mehr als zwei Stunden locker zu schaffen sein.“

      Er nahm den Pappkarton vom Fensterbrett und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Doch binnen weniger Sekunden erfasste ihn Reue, dem Impuls seiner Übellaunigkeit nachgegeben und Romy mit einer idiotischen, unbeweisbaren Behauptung attackiert zu haben. Er war nicht zu ihr gekommen, um sie zu verletzen, auch nicht, weil ihm Nadjas Kleid übermäßig wichtig war, sondern weil er zwei Stunden des Zusammenseins mit ihr genießen und ihr dabei näher kommen wollte. Er hatte die Gunst der Stunde vermasselt, und selbst wenn er umkehrte und Romy um Verzeihung bäte, wäre der Zauber, den er sich für diesen Morgen erhofft hatte, nicht mehr zu beschwören.

      „Erik!“

      Bevor er die Wohnungstür erreicht hatte, war Romy bei ihm. Trotz der wenigen Schritte ging ihr Atem schnell. „Das stimmt nicht.“

      Er wusste augenblicklich, was sie meinte. Trotzdem wollte er es von ihr hören. „Was stimmt nicht, Romy Bonero?“

      „Dass ich dich nicht mag und loswerden will. Aber …“

      „Aber was?“

      „Meine Mutter mahnte mich oft: Kind, höre auf dein Herz, aber bedenke auch, dass man auf einem Scherbenhaufen kein Glück aufbauen kann.“

      „Was bedeutet das für mich?“

      „Denke über dein Leben nach, Erik. Gib Nadja eine Chance. Oder ziehe einen Strich unter deine Vergangenheit, bevor du dich auf eine neue Sache einlässt. Du musst das ohne mich entscheiden. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

      Erik sah Romy eine Weile gedankenvoll an. Wie hätte er sie überzeugen können, dass sie nicht der Grund seines Konflikts war, sondern nur der Schlüssel zu der Kammer, in der er geschlummert hatte? Wäre Erik, als er Romy im Restaurant begegnete, im inneren Gleichgewicht gewesen, hätte er Nadjas Kleid nach Hause getragen und befände sich jetzt nicht in einer Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

      Romy schien sein Schweigen zu werten, als könne er zu ihren Worten keinen Zugang finden. „Verstehe mich bitte, Erik“, fuhr sie fort, „wir kennen uns erst wenige Stunden, und du lebst in einer Beziehung. Wenn ich mich auf dich einlasse, verstricke ich mich vielleicht in eine Affäre, deren Folgen wir beide später bedauern könnten.“

      Erik war gerührt darüber, dass sie ihn so inständig um sein Verständnis für ihren Standpunkt bat, obwohl sie nicht den geringsten Grund hatte, sich für irgendetwas zu rechtfertigen. Vielmehr wäre es an ihm gewesen, für seinen Fauxpas ihr gegenüber Abbitte zu leisten. Außerdem war ihm klar, dass sie mit jedem ihrer Worte recht hatte. Er strich ihr flüchtig über die Wange. „Ich verstehe dich, Romy. Sehr gut sogar. Wirst du auf mich warten?“

      Romy schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ins Blaue hinein. Wenn Mr. Right kommt, ist er da.“

      „Also muss ich mich beeilen, wenn ich dieser Mr. Right sein will.“

      „Vielleicht.“

      „Sonst kannst du mir nichts auf den Weg mitgeben? Nichts weiter als ein ‚Vielleicht‘?“

      „Nichts, Erik. Das ist alles.“

      „Aber ich kann etwas zurücklassen.“ Erik ließ den Pappkarton aus der Hand gleiten, nahm Romy an beiden Schultern und küsste sie auf den Mund, nicht fordernd, sondern zärtlich und nicht länger, als es ihm für den Augenblick angemessen erschien. Sie ließ ihn gewähren, erwiderte seinen Kuss jedoch nicht.

      „Ich komme zurück, Sommersprosse, verlass dich drauf.“ Er ließ ihre Schultern los, hob den Pappkarton vom Boden auf, öffnete die Tür und verschwand im Treppenhaus, ohne noch einmal den Kopf zu wenden. Erst als er unten ankam, hörte er, wie Romys Wohnungstür ins Schloss fiel. Sie schien ihm über das Treppengeländer den ganzen Weg bis zum Hauseingang nachgeschaut zu haben.

      Am ersten Zeitungskiosk, auf den er traf, kaufte er einen Stadtplan und ließ sich vom Kioskbetreiber den Weg zum Hauptbahnhof zeigen: Richtung Süden bis zum Fernsehturm und zur Museumsinsel, dann nach Westen und ab Friedrichstraße am Spreeufer entlang bis zum Spreebogen und Humboldthafen.

      Sie hat mich „Erik“ genannt und „du“ zu mir gesagt, und sie hat mir erlaubt, sie zu küssen, kam ihm zu Bewusstsein, als er, den Pappkarton unter den Arm geklemmt und den aufgefalteten Stadtplan in beiden Händen, losmarschierte und in seiner Brust ein Glücksgefühl aufstieg wie beim Anblick eines seltenen, erhabenen Naturschauspiels. „Ich komme wieder, Romy Bonero, was auch geschieht, ich komme wieder“. Unablässig wie eine Beschwörungsformel geisterte dieser Satz durch seinen Kopf, während er der Spree entgegeneilte. Doch je länger er unterwegs war, desto öfter drängten sich Romys mahnende Worte dazwischen: „Gib Nadja eine Chance. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

      Köln

      Nadja öffnete den Pappkarton und faltete das Seidenpapier auseinander. „Unser Kleid!“. Sie umarmte Erik und küsste ihn ungestüm. „Du bist einfach großartig! Dabei dachte ich zuerst, es sei dir nicht wichtig.“

      Erik ließ ihren Ausbruch an Leidenschaft kommentarlos über sich ergehen. Im Gegensatz zu ihr war ihm klar, dass er nicht der wahre Mittelpunkt ihrer Happyend-Geschichte war, sondern lediglich als Stellvertreter für sentimentale Erinnerungen an eine Zeit fungierte, die längst jeden Bezug zum Hier und Heute verloren hatte. Er konnte schlicht und einfach nicht begreifen, wie Nadja in einem Meer nostalgischer Gefühlsduselei versinken konnte, anstatt wie er die Warnsignale schrillen zu hören, dass ihre Beziehung auf eine abschüssige Bahn geraten war. Beinahe schien es ihm, als diene ihr das Festhalten an der Vergangenheit als Schutzwall, der sie davor bewahrte, den unliebsamen Tatsachen der Gegenwart ins Gesicht sehen zu müssen.

      Mit einem hatte sie allerdings recht, wenn auch anders, als ihr bewusst sein konnte. Denn für Erik hatten die Worte „unser Kleid“ eine neue Bedeutung gewonnen. Jetzt war es das Kleid, das ihn mit einer Frau in Berlin verband. Die es nur einmal getragen hatte und nie wieder tragen würde. Mit der er, alle Begegnungen zusammengezählt,


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