Leichenschau. Irene Dorfner

Leichenschau - Irene Dorfner


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es macht gerade so viel Spaß.“

      „Nein, wir können sie doch nicht einfach so sitzen lassen. Vielleicht ist sie so schwer verletzt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.“ Thorsten hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Frau sich im Nachhinein bei seiner Mutter hierüber beschwerte. Es kam leider oft vor, dass ihm ein Missgeschick mit dem Fußball passierte. Er hatte seiner Mutter versprechen müssen, nicht davonzulaufen, sondern sich um den angerichteten Schaden zu kümmern. Er startete noch einen Versuch: „Hallo?“, sprach er sie erneut an, während er sie an der Schulter anfasste und zuerst zaghaft, dann kräftig schüttelte.

      „Ist die krank? Die gibt ja keinen Mucks von sich.“

      „Oder sie ist blöd. Mein alter Onkel Erwin reagiert auch auf gar nichts, er liegt nur im Bett.“

      Einer der Jungs trat der Frau nun mehrfach gegen das Schienbein, zuerst leicht, dann immer kräftiger. Schließlich schüttelte er die Frau, und zwar so lange, bis sie schließlich zur Seite kippte, von der Bank fiel und auf dem Boden lag.

      2.

      Leo Schwartz stand als Erster vor der Leiche der jungen Frau. Er wohnte in Altötting und hatte den kürzesten Anfahrtsweg. Er sah sich die Leiche an und war erstaunt, denn augenscheinlich schien sie in Ordnung zu sein.

      „Leo Schwartz mein Name, Kripo Mühldorf. Sie haben uns gerufen?“ Er sah den 38-jährigen, kleinen, fülligen Notarzt mit der Glatze fragend an.

      „Dr. Leichnahm mein Name, Dr. Richard Leichnahm. Diese Kinder dort haben die Frau gefunden und die 110 gewählt. Leider konnte ich nur den Tod der Frau feststellen. Ich habe die Kriminalpolizei gerufen, weil mit der Toten etwas nicht stimmt.“

      Leo versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken und nicht auf den Namen des Notarztes zu reagieren, aber der hatte seine Reaktion offensichtlich bereits erwartet.

      „Leichnahm mit einem h. Und ja, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn schon die eine oder andere blöde Bemerkung bezüglich meines Namens gehört und auch jeden nur denkbaren Witz darüber ertragen müssen. Man muss auch die positive Seite sehen: Keiner vergisst meinen Namen. Außerdem,“ fügte er hinzu, „sind Sie auch nicht schwarz und heißen doch so.“

      „Sie haben völlig recht. Es tut mir leid, entschuldigen Sie bitte. Was ist mit der Frau?“

      „Die Frau ist ca. 30 – 35 Jahre alt. Keine äußeren Verletzungen. Nach meiner Einschätzung ist der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten, die Leichenstarre ist bereits weit fortgeschritten.“

      „Sind Sie sich sicher? Die Leiche sieht nicht danach aus.“

      Leo war skeptisch. Er hatte bereits mehrere Leichen gesehen, bei denen die Leichenstarre eingesetzt hatte, und die sahen bei Weitem schlimmer aus.

      „Ich zeige Ihnen etwas,“ sagte Dr. Leichnahm, nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fuhr der Toten damit über die Wange und dann über den Handrücken. Er hielt Leo das Tuch vors Gesicht.

      „Alle sichtbaren Körperstellen wurden mit einer dicken Schicht Schminke überzogen. Die Leichenflecke wurden gänzlich unkenntlich gemacht. Sehen Sie sich das an. Es wurden sogar Adern fein säuberlich nachgezeichnet. Eine perfekte Arbeit, würde ich sagen.“

      „Sie meinen, jemand hat sich die Mühe gemacht und die Leiche geschminkt, damit sie so aussieht, als würde sie noch leben?“

      „Warum sie geschminkt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Das herauszubekommen ist Ihr Job. Ich kann Ihnen nur sagen, dass nach meiner vorsichtigen Einschätzung nach der Tod mindestens vor zwei Tagen eingetreten ist und dass die Frau nicht hier verstarb.“

      „Warum sind Sie sich so sicher, was den Ort betrifft?“

      „Meine Schwester ist Kosmetikerin. Daher weiß ich, dass es nicht nur eine Ewigkeit dauert, sondern jede Menge Utensilien dafür benötigt werden, bis ein Gesicht auch nur annähernd so hergerichtet ist. Dazu kommen die Hände, das Gesicht und der Hals. Alles wurde mit lebensechten Adern und Schatten versehen. Sehen sie sich die Fingernägel an. Dass die bearbeitet wurden, sieht man nur bei genauer Betrachtung. Und diese Lippen! Alles in allem eine phantastische Arbeit, so etwas habe ich bislang noch nicht gesehen.“ Dr. Leichnahm war fasziniert. Die Leiche war perfekt geschminkt worden. Er hatte beinahe Hochachtung vor der aufwändigen Arbeit. „Bezüglich der Todesursache kann ich absolut nichts sagen, das müssen Spezialisten abklären. Wie bereits gesagt, gibt es keine äußeren Verletzungen oder sonstige Hinweise, mit denen ich dienen könnte.“

      Viktoria Untermaier, Leos Vorgesetzte und mittlerweile auch seine heimliche Lebensgefährtin, war nun ebenfalls eingetroffen und hörte erstaunt den Ausführungen des Dr. Leichnahm zu. Der Arzt hatte einen österreichischen Akzent, was Leo bislang nicht aufgefallen war. Für ihn als Schwaben, der vor zehn Monaten von Ulm nach Mühldorf versetzt wurde, klang bayrisch und österreichisch absolut gleich. Als er das einmal in einer geselligen Runde bemerkte, schlug ihm sofort heftiger Widerspruch entgegen. Die Bayern beharrten vehement darauf, dass ihr Dialekt absolut nichts mit dem der Österreicher zu tun hätte, und sie wollten sich mit den direkten Nachbarn der nahen Grenze auf keinen Fall vergleichen lassen. Was wahrscheinlich umgekehrt ähnlich war.

      „Die Frau geht sofort in die Gerichtsmedizin,“ wies Viktoria Untermaier an, was Leo bereits veranlasst hatte. Viktoria war heute offensichtlich schlecht gelaunt, denn sie ging mit energischen Schritten auf die Gruppe der Kinder zu, zu denen sich bereits einige Elternteile und darüber hinaus viele Schaulustige versammelt hatten. Leo sah seiner Viktoria hinterher, die heute wieder besonders hübsch aussah. Erst seit wenigen Wochen war er mit der 47-jährigen, 1,65 Meter großen Viktoria liiert. Er war sehr glücklich darüber, denn sie war lange für eine neue Beziehung wegen ihrer gescheiterten Ehe und der unschönen Scheidung noch nicht bereit gewesen. Leo hatte sogar Verständnis für ihr Zögern, denn er hatte das Vergnügen, diesen Kotzbrocken von Exmann kennenzulernen.

      Seit der gemeinsamen Urlaubswoche, die sie auf Kos in Griechenland verbracht hatten, waren erst wenige Wochen vergangen. War das eine schöne Zeit gewesen, die er nach einem schrecklichen Fall mit seiner Exfrau auch dringend gebraucht und zusammen mit Viktoria auch sehr genossen hatte. Sie hatten sich nach der Rückkehr darauf geeinigt, dass sie noch niemandem davon erzählen wollten, dass sie zusammen waren, vor allem nicht den Kollegen. Viktoria hatte ihn davon überzeugt, dass sie sich als Paar zuerst ausprobieren mussten, obwohl Leo am liebsten allen, die ihm über den Weg liefen, von seiner Viktoria erzählen wollte. Eigentlich hatten sie vorgehabt, es sich heute bei Leo zuhause vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Wein und Knabberzeug standen bereit, Viktoria wollte Pizza mitbringen. War das der Grund für ihre üble Laune?

      „Ihre Freundin?“, unterbrach Dr. Leichnahm Leos Gedanken.

      „Wie bitte?“

      „Na so, wie sie die Frau ansehen, liegt das auf der Hand, mir können Sie nichts vormachen. Haben Sie noch Fragen bezüglich der Toten oder kann ich mich verabschieden?“

      „Hatte die Frau irgendwelche Papiere ohne Persönliches bei sich?“

      „Nein, nichts dergleichen. Keine Handtasche. Die Hosen- und Jackentaschen sind vollkommen leer. Wenn Sie mich fragen, sind die Kleidungsstücke alle nagelneu. Und wenn ich noch anmerken darf, sind die Schuhe etwas zu groß. Aber ich möchte der Gerichtsmedizin nicht vorgreifen.“

      „Eine Frage hätte ich noch: Ich hatte schon oft mit Notärzten und Ersthelfern zu tun. Sie waren doch nicht immer Notarzt, dafür achten sie zu sehr auf Kleinigkeiten.“

      „Sie haben mich erwischt, Herr Schwartz. Ich war Pathologe bei der Medizinischen Universität Wien. Aus privaten Gründen bin ich seit einiger Zeit hier in Altötting als Notarzt tätig. Sind wir hier jetzt fertig? Die Pflicht ruft.“

      Dr. Leichnahm wurde bereits mehrfach angefunkt. Leo sah dem Arzt nach. Es würde ihn sehr interessieren, warum er hier in Altötting gelandet ist. Viktorias Rufe rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie brauchte bei den Befragungen der Kinder, Eltern und Passanten seine Unterstützung.


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