Leichenschau. Irene Dorfner
Hilfeleistung gedroht hatte, behielt Werner lieber für sich.
„Wenigstens etwas. Haben Sie mit diesem Österreicher bezüglich der Pathologie sprechen können, Herr Schwartz?“ Besonders diese Angelegenheit brannte ihm unter den Nägeln.
„Selbstverständlich. Dr. Leichnahm war sofort bereit, einzuspringen. Allerdings gab es ein Problem. Er ist in Deutschland offiziell nicht als Pathologe zugelassen und darf daher nicht aktiv werden.“ Krohmer war enttäuscht, rieb sich die Augen und stöhnte enttäuscht auf.
„Ich habe eine zugelassene Pathologin gefunden, die für diesen Fall als Verantwortliche unterzeichnet und deshalb ist Dr. Leichnahm bereits unterwegs in die Pathologie, um als deren Mitarbeiter zu arbeiten. Ich hoffe, die erforderlichen Unterlagen liegen in München bereit?“
Krohmer war sehr erleichtert über diese Nachricht. Er dachte nicht einmal daran, nachzufragen, um welche Pathologin es sich dabei handelte. Es war ihm nur wichtig, dass endlich mit der Arbeit begonnen werden konnte.
„Selbstverständlich ist alles vorbereitet. Es hat mich zwar einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, aber schlussendlich war mir der zuständige Staatsanwalt noch einen Gefallen schuldig und hat zähneknirschend zugestimmt.“
„Ich habe nochmals mit den Anwohnern gesprochen,“ sagte Hans, der heute schon eine wahre Tortur hinter sich hatte. Er hatte mit geschätzten tausend Menschen gesprochen und war wie ein Kaninchen zwischen den Befragungen und den eintreffenden Bussen hin- und hergesprungen. „Dazu konnte ich auch mit einigen Fahrgästen der betreffenden Buslinien sprechen. Allerdings nur mit einigen von denen, die regelmäßig und immer zur gleichen Zeit damit fahren. Leider sind mir viele Fahrgäste durch die Lappen gegangen, die Menge war einfach zu groß und die Busfahrer drängten darauf, ihre Fahrpläne einzuhalten. Ich bin auch nur bis zur 13.01 Uhr-Fahrt gekommen. Wir sollten uns alle Fahrten nochmals genauer vornehmen, aber alleine ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Wir sollten die Befragungen mit vielen Kollegen durchführen. Darüber hinaus wären Plakate sinnvoll, die wir an den Haltestellen anbringen sollten.“
„Das habe ich notiert. War irgendetwas Brauchbares dabei?“
„Im Großen und Ganzen überschnitten sich die Aussagen dahingehend, dass die Frau zwar gesehen wurde, sich aber niemand darum gekümmert hatte.“
„Sind die Menschen tatsächlich schon so abgestumpft?“ Krohmer wollte einfach nicht daran glauben. „Was haben Sie, Frau Untermaier?“
„Ich habe mich inzwischen über Sekten und Glaubensgemeinschaften informiert, vorrangig im Berliner Raum. Mit einem Mitarbeiter der Sekten- und Psychogruppe Berlin habe ich ein ausführliches Telefongespräch geführt. Es gibt offenbar in Berlin eine unüberschaubare Menge an den verschiedensten Gruppierungen, die religiös, lebenshelfend und therapeutisch geprägt sind. Oft sind die Grundlagen nur eine eigene Weltanschauung. Der Mitarbeiter hat mir versprochen, nach dem Namen Silke Deser zu suchen, ob sie schon einmal in Erscheinung getreten oder irgendwie sonst in diesem Zusammenhang aufgefallen ist.“
Die Kollegen waren über die Ausführungen sehr überrascht. Es war keinem bislang bewusst, wie viele solcher Gruppierungen es gibt. Außer natürlich Rudolf Krohmer, der sich lange Zeit nach dem Verschwinden seiner Nichte damit beschäftigt hatte.
„Bleiben Sie an diesem Thema unbedingt dran. Sprechen Sie mit allen möglichen Einrichtungen, die irgendwie weiterhelfen könnten. Und Sie beide,“ sprach er Hiebler und Grössert an, „kümmern sich bitte gemeinsam um die Befragungen der Bus-Passagiere. Nehmen Sie sich die Verstärkung mit, die Sie brauchen. Es wird sich doch in Gottes Namen ein einziger finden lassen, der etwas gesehen hat! In welcher Welt leben wir eigentlich!“
Rudolf Krohmer rannte nach draußen. Er hatte seine Frau für 15.00 Uhr herbestellt, die noch nichts von all dem hier mitbekommen hatte. Jetzt befand er es an der Zeit, sie einzuweihen und miteinzubeziehen, schließlich war auch sie persönlich betroffen. Er wollte sie an seiner Seite wissen, wenn die Nachricht aus der Pathologie München eintraf. Er selbst war fest davon überzeugt, dass es sich bei der Toten um seine Nichte Silke handelte, die Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Schwester war einfach zu groß.
Frau Gutbrod, die an der Tür gelauscht hatte, konnte gerade noch einen Schritt zur Seite gehen und somit hinter die Tür huschen, bekam aber trotzdem noch die Tür gegen die Nase, die sie sich nun vor Schmerzen mit beiden Händen hielt. Sie musste einen Aufschrei krampfhaft unterdrücken, denn die anderen kamen nun nacheinander ebenfalls aus dem Besprechungszimmer. Inständig hoffte sie darauf, dass sie niemand entdecken würde, was sehr peinlich für sie wäre. Warum ging Frau Untermaier nicht weiter? Auf wen wartete sie denn? Sie trennte nur die Tür und Frau Gutbrod fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Untermaier jeden Moment die Tür schließen und sie dann entdecken würde, war zum Greifen nah. - Aha, auf den Kollegen Schwartz hatte sie also gewartet. Der Schmerz wurde leichter, was auch an der Ablenkung lag.
„Wie hast du das mit der Pathologin angestellt?“, fragte Viktoria.
„Das war eine Kleinigkeit. Ich habe Christine angerufen und sie war sofort einverstanden. Allerdings konnte ich sie nicht davon abhalten, sich an dem Fall zu beteiligen. Ich gehe davon aus, dass sie Dr. Leichnahm unterstützend zur Seite steht. Hoffentlich vergrault sie ihn nicht.“
Viktoria musste laut lachen, damit hatte sie nicht gerechnet.
„Christine kommt? Ach wie schön, ich freue mich. Auch Krohmer wird sich sehr über ihren Besuch freuen. Bleibt es bei heute Abend?“
Leo nickte nur und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Natürlich erst, nachdem er sich umgesehen hatte und sicher war, dass sie niemand dabei beobachtete. Die beiden gingen zum Glück, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Jetzt konnte Hilde Gutbrod endlich aus ihrem Versteck und zur Toilette gehen, denn sie blutete leicht aus der Nase und musste die Spuren so schnell wie möglich beseitigen. Diese schreckliche Christine Künstle kommt also hierher? Warum nur? Wollte sie jetzt den Platz der verstorbenen Geliebten einnehmen? Und was hatten die Untermaier und Leo Schwartz miteinander, hatte sie da etwas nicht mitbekommen? Sie hatte jede Menge Arbeit vor sich, natürlich musste sie auch dieser Spur nachgehen. Sie wurde unvorsichtig, gab der Tür einen Stoß – und stand direkt vor Hans Hiebler!
„Wen haben wir denn da? Frau Gutbrod! Wir haben doch nicht etwa verbotenerweise gelauscht? Wenn ich mir Ihre Nase so ansehe, sind sichtbare Beweise zurückgeblieben, sogar auf der Tür. Ich denke, ich sollte die Spurensicherung holen und einen Bericht schreiben.“ Er hob den Finger. „Das wird Herrn Krohmer aber überhaupt nicht gefallen.“
„Unterstehen Sie sich Herr Hiebler! Was fällt Ihnen überhaupt ein? Das war ein Unfall. Ich bin eben zufällig vorbeigekommen und bekam die Tür auf die Nase,“ rief sie aufgeregt und rieb mit der Hand über die Tür.
„Wollen Sie Spuren beseitigen? Sie wissen doch, dass Blut trotz dieser oberflächlichen Reinigung noch lange, ach was sage ich, noch ewig
nachweisbar ist.“
Hans genoss diese Situation mit allen Fasern seines Körpers. Bereits mehrfach war er mit Frau Gutbrod zusammengestoßen oder hatte ihretwegen Ärger bekommen.
„Lassen Sie mich doch in Ruhe,“ rief Frau Gutbrod und ging schnurstracks zur Toilette, wo sie zum Glück alleine war. Sie betrachtete sich im Spiegel, wischte das wenige Blut weg und kühlte die Stelle mit einem getränkten Papiertuch. Nur noch ein wenig Puder und man würde überhaupt nichts mehr sehen.
Auf dem Weg in ihr Büro dachte sie nochmals über das nach, was passiert war. Herr Hiebler hatte sie jetzt in der Hand. Es würde einen Riesenärger geben, wenn ihr Chef davon erfahren würde, dass sie wieder gelauscht hatte. Und das alles, wo sie doch nur Bruchstücke und absolut nichts Interessantes gehört hatte. Das, was sie verstanden hatte, war sehr verworren. Es ging um eine Tote, deren Name sie nicht verstanden hatte. Und es ging um Busfahrer, deren Passagiere und um Sekten in Berlin. Was sollte daran so interessant und geheim sein? Warum machen die Kollegen so ein Geheimnis um diesen Fall? Es war ihr jetzt egal, wenn Herr Hiebler sie beim Chef anschwärzte. Sie konnte sich immer noch damit rausreden, dass das ein Unfall war und sie rein zufällig vorbeikam. Sie musste jetzt