Die Rückkehr des Wanderers. Wolfe Eldritch

Die Rückkehr des Wanderers - Wolfe Eldritch


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Haupthof führten, zur Hälfte hinter sich gelassen hatte, sah er jedoch, wie der alte Mann gegen einen Pfeiler gelehnt das morgendliche Treiben beobachtete.

      Stian war kaum kleiner als der zwanzig Jahre jüngere Jarl, aber nicht ganz so kräftig gebaut. Das Haar, obgleich vollständig ergraut, war noch voll, die Gestalt gerade, mit breiten Schultern, die das Alter bislang nicht zu beugen vermocht hatte. Man sah ihm nur bedingt an, dass er in zwei Wintern sechzig Jahre alt sein würde. Er hatte den Großteil der Regierungsarbeit in Falkehaven vor wenigen Jahren an seinen Sohn Alfr abgegeben und verbrachte die Zeit seitdem zumeist damit, durch Norselund zu reisen. Varg hatte die Stufen zur Hälfte bewältigt, als der andere ihn bemerkte und sich zu ihm umdrehte.

      »Endlich wieder Schnee, der Winter hat mir gefehlt«, rief der alte Nordmann lächelnd und kam ein paar Schritte auf den Fuß der Treppe zu.

      Varg entging nicht, wie sehr er sich dabei auf den verzierten, eisenbeschlagenen Stock stützte. Er trug ihn seit einigen Jahren, bis zum letzten oder vorletzten Winter hatte er ihm allerdings eher als Schmuck gedient, denn als Werkzeug. Eine Jahrzehnte zurückliegende Verletzung seines Knies machte ihm offenbar mit jedem verstreichenden Jahr mehr zu schaffen.

      »Dass ein von der Wärme langer Sommer verwöhnter Südländer unser nordisches Klima zu schätzen weiß, ehrt uns hier oben«, gab Varg in ebenso freundlichem Spott zurück. »Hast du dir unsere merkwürdigen Vorkommnisse schon angesehen? Oder hast du auf mich gewartet?«

      »Ich habe auf dich gewartet, wie es sich für einen Gast gehört. Es soll ja niemand sagen können, dass wir Südländer alle nur Bauernlümmel sind. Lass uns gemeinsam sehen, ob wir es mit einem echten Problem zu tun haben, oder nur mit Jägern, die noch mehr trinken als ihr Burgherr.«

      Der jüngere Jarl schnaufte nur ob dieses Seitenhiebes. In der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau war der Jarl av Falksten der einzige Mensch gewesen, den er zu ertragen vermocht hatte. Er allein wusste, wie schlecht es für eine Weile um ihn gestanden hatte, wie schmal der Grad zur unkontrollierten Trunksucht und Freitod war, auf dem er fast ein Jahr lang gewandelt war. Sie gingen nebeneinander gemächlichen Schrittes über den Hof, wobei der Jüngere sein Tempo dem des Älteren anpasste. Stian hatte sich bei einem Reitunfall in seiner Jugend das Knie gebrochen, eine Verletzung, die ihn in letzter Zeit ernsthaft zu plagen begann. Der betagte Jarl sah den Blick des Burgherrn und verzog das von den Jahren gezeichnete Gesicht zu einem schiefen Lächeln.

      »Tut zum Glück nur weh, wenn es kalt und feucht ist. Sobald die götterverdammte Sonne wieder scheint, wird es sicher besser.«

      »Ja, du warst schon einmal schneller unterwegs«, stimmte Varg ihm zu, »wenn auch nicht viel. Um auf Erfreulicheres zu kommen als die Gebrechen eines Greises, wie geht es eigentlich unseren Turteltauben, hast Du in letzter Zeit etwas von ihnen gehört?« Die älteste Tochter des Freundes und Bjorn av Kråkebekk, der dritte und jüngste Jarl im Bunde der drei Herren von Norselund, waren kürzlich vermählt worden.

      »Der letzte Vogel brachte nichts Neues. Der verdammte Schlamm frisst immer mehr Ackerland, aber den beiden geht es gut. Das mit der Verschlammung hat hoffentlich ein Ende, wenn sie die ersten Erhebungen der südlichen Highlands erreicht. Sonst reicht das selbst angebaute Korn bald nicht einmal mehr für die dürren Gespenster, die wir Hühner nennen.«

      Kråkebekk hatte vor dem Grau die Kornkammer der Insel dargestellt. Seit jeher machte der Fischfang einen guten Teil der Nahrungsmittelversorgung aus. Was man in den drei Jarltümern an Getreide für Mehl und Brot brauchte, kam zumeist aus den Äckern im ehemals fruchtbaren Südwesten. Die Felder im Südosten und vor allem im Norden von Norselund waren selbst vor dem Grau kaum für mehr zu gebrauchen gewesen, als Korn für die Geflügelzucht zu liefern.

      Heute stellte der Fisch, der zum größten Teil bei Falkehaven aus dem Meer gezogen wurde, die mit Abstand wichtigste Nahrungsquelle der Insel dar. Die Getreideernte aus Kråkebekk war schon lange nicht mehr ertragreich genug, um die anderen beiden Jarltümer mitzuversorgen. Der kümmerliche Ertrag an Winterweizen, der im Osten und Norden noch angebaut wurde, reichte gerade einmal zur Haltung von anspruchslosem Federvieh wie Hühnern. Dazu kamen einige Schafherden und die Pferdezuchten in Kråkebekk. Für andere Nutztiere, wie Rinder oder gar Schweine, gab es bis auf wenige Ausnahmen einfach nicht mehr genug Futter und Weideland.

      Das Überleben nach dem Grau verdankte das Volk in erster Linie dem engen Band, das während der letzten Generationen zwischen den Familien der Jarle entstanden war. In einer gemeinsamen Anstrengung strukturierten sie das Land nach der Katastrophe um, und verteilten die ihnen verbliebenen Ressourcen mit Bedacht und Voraussicht. Es hatte weder Dünkel noch Opportunismus gegeben, weder Neid noch Misstrauen. Anders als vielerorts auf dem Festland. Nur aus diesem Grund hatte das Volk die Auswirkungen des Grau überstanden, obwohl es die Insel ungleich härter getroffen hatte als die Gebiete im Süden der Welt. In Norselund herrschte seit jeher ein kaltes und lebensfeindliches Klima. Das Grau hatte weite Teile des Landes nahezu unbrauchbar gemacht. Vor allem im Norden waren ganze Landstriche inzwischen verwaist.

      Diese enge wirtschaftliche Verbundenheit hatte sich bis heute gehalten. Ulfrskógr versorgte den Rest der Insel mit Eisen und Kohle und stellte mit dem Metall die Münze für den Außenhandel zur Verfügung. Kråkebekk konzentrierte sich fast völlig darauf, zum Wohle aller Jarltümer den bestmöglichen Ertrag aus seinen Feldern und Weiden herauszuholen. Falksten sorgte mit dem Fischfang für Nahrung und wickelte über Falkehaven den Export und Import ab.

      Im Grunde war Norselund ein eigenes Großherzogtum, das von den drei Jarlen als Triumvirat regiert wurde. Eine Tatsache, die man vor dem Rest des Königreiches tunlichst zu verschleiern bemüht war. Groß genug waren bereits das Misstrauen und die Animositäten zwischen der Insel und dem Festland. »Immerhin ist die Küste im Südwesten durch die Sümpfe bestens geschützt. Da wird niemand eine erfolgreiche Invasion landen. Also keine Gefahr, dass uns in Zukunft irgendwer erschlägt, bevor wir in Ruhe verhungern können«, endete Stian schließlich.

      »Solange wir uns alle ein Beispiel an deiner heiteren Sicht der Dinge nehmen, kann uns kein Leid schrecken«, lächelte der jüngere Jarl. »Ich war seit meiner Zeit in Høyby nicht mehr dort. Hast Du dir das in den letzten paar Jahren mal selbst angeschaut?«

      »Vor drei Jahren«, bestätigte Stian. »Ich bin die ganze landungsfähige Küste abgefahren. Also das, was früher landungsfähig war. Ist kaum noch etwas übrig von den alten Stränden. Das Land dort ist für die Menschen verloren. Alles verschlammt und die Sümpfe haben sich in alle Richtungen ausgebreitet. In einem Moment kannst Du bis zu den Knien im Schlamm versinken und einen Meter weiter bis du, ohne es zu merken, im Sumpf. Das einzig Gute, was man noch von der Südwestküste sagen kann, ist, dass sie jetzt eine natürliche Verteidigung darstellt. Die dürfte ebenso effektiv sein wie die Steilküsten bei dir. Wer da unten landet, kann seine komplette Armee an den Sumpf verlieren, egal zu welcher Jahreszeit. Das Ackerland ist jedenfalls hin. Die ganzen Fischerdörfer sind auch weg, die letzten paar waren gerade am Verrecken, als ich da war.«

      »Dann hoffen wir mal, dass die Fische weiterhin brav bei dir vorbeischwimmen«, meinte Varg, »weißt du schon, wann du wieder weiter willst?«

      »Willst mich schon wieder loswerden, damit du in Ruhe saufen kannst, was?«, stichelte der alte Jarl.

      »Das klingt natürlich verlockend«, gab Varg unbeeindruckt zurück, »aber ich dachte eher daran, dass hier bald der ungastlichste Ort südlich der Eisberge sein wird. Der Winter macht langsam ernst und so wie du jetzt schon lahmst, hätte ich dich längst von deinem Elend erlöst, wenn du ein Pferd wärst.«

      »Vielleicht nächste Woche. Hätte nicht gedacht, dass mir die Kälte so zu schaffen macht hier oben. Götterverdammtes Bein. Schauen wir mal, was du hier für ein Problem hast. Oder ob du überhaupt eines hast und deinen Waldhütern nicht nur die gemütliche Atmosphäre hier zu viel geworden ist, so kurz vor dem Winter.«

      »Wird schon so sein«, meinte Varg. »Waren nicht die Waldhüter, die zu mir gekommen sind. Die sind erst zu Leoric gegangen und der hat mir dann Bescheid sagen lassen.«

      »Leoric? Lebt dieser alte Geier immer noch?«, brummte Stian, »habe ihn gestern gar nicht gesehen. Nicht, dass seine Anwesenheit meinem Wohlbefinden sonderlich


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