Die Rückkehr des Wanderers. Wolfe Eldritch
Stian, der nach dem Aufstieg der vielen Stufen kaum schneller ging als der Haushofmeister, ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken. Varg blieb vor den beiden älteren Männern stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Was kannst du mir dazu sagen?«, wollte er von Leoric wissen, »wie weit hast du die Tiere bislang untersucht? Ich habe dir die missgebildete Kuh aufgehoben, die anderen werden entsorgt.«
»Ich habe sie mir nur oberflächlich angeschaut«, gab der Greis zurück, »als ich sah, was offenbar passiert ist, habe ich angewiesen, dass ihr die Sache persönlich in Augenschein nehmt, bevor ich etwas daran verändere. Es ist, wie ich finde, ein wenig schwer zu glauben, wenn es man es nicht selbst gesehen hat. Ganz gleich, von wem es einem berichtet wird.
Leider kann ich dazu nur sagen, dass ich so etwas noch nie beobachtet oder davon gehört habe. Die Natur hat sich nach dem Grau verändert, und sie tut es noch, aber das dort draußen macht einfach keinen Sinn. Dass ein Tier vom Pflanzenfresser zum Fleischfresser wird, dazu noch zum Kannibalen, ist einfach widernatürlich.«
»Zumal dafür keine Notwendigkeit besteht«, stimmte der Jarl zu, »die Tiere haben in den Wäldern so viel Platz und Futter, das es keinen Bedarf für eine neue Nahrungsquelle gibt. Geschweige denn dafür, die eigene Art anzugreifen. Aber wie dem auch sei, dein Tier liegt vor der Tür, Leoric. Ich will, dass du es auseinandernimmst und alles in Erfahrung bringst, was du kannst. Schneid es auseinander, koch es aus, löse es in deiner Giftküche auf und verfüttere es an Ratten und schau, was passiert. Aber finde heraus, was mit dem Wild nicht stimmt. Wie die Missbildungen zustande kommen, und wie einige von ihnen so aggressiv werden konnten. Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr wir auf jede unserer bescheidenen Nahrungsquellen angewiesen sind.«
»Ich bin mir des Ernstes dieser Angelegenheit durchaus bewusst, mein Lord. Ich werde natürlich mein Möglichstes tun. Was habt ihr den Männern gesagt? Es wäre vielleicht besser, wenn sie die Sache vorerst nicht hinausposaunen würden. Der Winter wird bald über uns kommen«, er verstummte, als der Jarl die Hand hob.
»So lange wie irgend möglich wird niemand etwas davon erfahren. Wenn dich jemand fragt, was du mit dem Kadaver machst, sag ihm einen Gruß von seinem Jarl und er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Tu, was in deiner Macht steht und fang heute damit an. Jede Kleinigkeit an Information ist willkommen, im Moment habe ich nichts und kann dementsprechend auch nichts unternehmen. Wenn die Waldhüter weitere Fälle wie diesen zu Gesicht bekommen, werde ich davon erfahren.«
Leoric senkte den Kopf, »natürlich, mein Lord. Ich werde dafür sorgen, dass ihr umgehend benachrichtigt werdet, wenn ich etwas finde, das von Interesse sein könnte.«
»Das heißt dann wohl«, brummte Stian, »das ich nach den paar Minuten diese beschissene Treppe wieder herunter humpeln kann.«
»Dein Scharfsinn wird nur von deiner Leidensfähigkeit übertroffen«, gab Varg zurück. »Wenn wir unten sind, bekommst du einen Bierschlauch ganz für dich allein. Und ein warmes Feuer wartet auf deine alten verdrehten Knochen.«
»Na, wenn das keine lohnende Aussicht ist. Eine Einladung zum Bier ist ja bei dir gleichbedeutend mit Speise und Trank in einem. Aber immer noch besser als dein Wildbret dieser Tage.«
Auf dem Weg nach unten fluchte Stian vor Schmerzen leise in sich hinein. Sein Knie fühlte sich an, als hätte man ihm zerstoßenes Glas zwischen das Gelenk geschüttet. »In drei Tagen reise ich ab«, sagte er keuchend, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten und den Turm verließen. »Wenn ich dein schönes Jarltum vor dem Wintereinbruch hinter mich bringe, kann ich im Oktober mal schauen, was mein Schwiegersohn und meine Tochter für die kalten Monate vorhaben. Außerdem werde ich mir ein Bild machen, wie Tiere im Süden so aussehen, besonders das Wild.«
Der jüngere Jarl nickte.
»Ich glaube ja, dass du nur Angst vor meinen Wachhirschen bekommen hast. Aber es kann sicher nicht schaden, wenn wir in allen Jarltümern die Augen offen halten. Was immer hier passiert, mag ebenso gut anderswo im Gange sein. Dann lass uns Essen und Trinken und die nächsten Tage genießen. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.«
»Aye. Hoffen wir, dass dich dein Wild nicht gefressen hat, wenn ich im Frühjahr wiederkomme. Wie ich dich kenne, wirst du dich ja wie üblich nicht dazu bewegen lassen, deine Höhle hier mal für eine Weile zu verlassen und die Südländer besuchen zu kommen.«
»Du weißt doch, wie das ist«, meinte Varg, »Die Minen, die Schmieden, das Eisen. Jemand muss alles am Laufen halten. Außerdem muss ich mich um die Ausbildung meiner Rabengarde kümmern.«
Er lächelte, als der andere grunzend abwinkte. Was er gesagt hatte, entsprach den Tatsachen, aber beide wussten, dass er einfach gerne hier war und kein Verlangen verspürte, seine Heimstatt zu verlassen. Er hätte sicher für eine gewisse Zeit weg gekonnt, gerade im Winter. Für eine Weile war Sigvar Rothborg, einer seiner engsten Vertrauten, durchaus in der Lage, ihn zu vertreten. Der zweitälteste Sohn eines Thane aus dem Westen des Jarltums war vor fünfzehn Jahren als Anwärter für die Rabengarde nach Snaergarde gekommen. Inzwischen war er deren Hauptmann. Darüber hinaus hatte der Jarl den ebenso stillen wie intelligenten und kompromisslosen Mann zu einer Art Stellvertreter aufgebaut. Heute war der Dreißigjährige einer seiner wertvollsten Gefolgsmänner. Er kannte jeden Winkel des Jarltums und wusste über alle Abläufe Bescheid, die für die Minen, die Eisenverarbeitung und die Festung selbst von Bedeutung waren.
Doch der Jarl hatte den Winter in der Heimat immer geliebt. Diese langen, eisigen und dunklen Tage, die vielen anderen so sehr auf das Gemüt schlugen. Er war ein Sohn Norselunds durch und durch, ein Angehöriger einer Generation, die in das ewige Grau hineingeboren worden war. Darüber hinaus floss in seinen Adern das Blut von Hathagat Ohngesicht, dem Gründer der Dynastie aus den kalten, dunklen Wäldern des höchsten Nordens. Die beiden Jarle gingen einträchtig und so langsam, wie das Bein des älteren Mannes es nötig machte, zu dem Aufgang des Bergfriedes zurück.
Während sie wenig später gemeinsam vor dem Feuer eines großen, gemauerten Kamins saßen und tranken, schleppte Leoric sich die Stufen seines Turmes hinab. Als er schließlich aus der Tür in den feinen Schnee hinaus trat, hatte man das Tier bereits gebracht und lose wieder zugedeckt. Jemand war so vorausschauend gewesen, und hatte einen hölzernen Schemel neben den Eingang des Turmes gestellt. Daneben stand ein kleines Tischchen, kaum mehr als ein niedriger Hocker.
Der Greis ließ sich ächzend auf der Sitzgelegenheit nieder und legte die Umhängetasche, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er kramte eine Weile darin herum und lauschte dabei der allgegenwärtigen, leisen Musik der Hämmer der Ausschmieder, die rund um die Uhr arbeiteten. Es waren durch die dicken Mauern der Burg gedämpfte, vertraute und beruhigende Geräusche. Ein angenehmer Gegensatz zu dem missgebildeten Etwas, das so beunruhigend real vor ihm lag. Mit den Resten seines toten Artgenossen zwischen den Zähnen.
Seufzend beugte sich der Greis über den Kadaver und zog das Tuch beiseite. Dann nahm er ein gebogenes Messer mit einer kurzen aber scharfen Klinge in seine skelettartige Rechte. Langsam begann er, Teile von Horn, Fell und Fleisch herauszuschneiden. Irgendwo weiter im Norden schrie ein Tier im Wald.
Vielleicht, dachte Leoric, als er die ersten Gewebestücke in einem kleinen Tonschälchen verstaute, war es auch ein Waldhüter.
Kapitel 2
Dedra
In den Tagen des frühen Septembers des Jahres 826 wurde der Greisin bewusst, dass sie in wenigen Jahren zu alt sein würde, um so weiterzuleben, wie sie es bisher getan hatte.
Die alte Dedra lebte seit Jahrzehnten in diesem abgelegenen Landstrich der Ostmark. Ihre rustikale Hütte war inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt. Sie stand versteckt am Rande der Wälder, welche die östlichen Grenzlande markierten. Es war damals eine gute Entscheidung gewesen, sich hier niederzulassen. Eine, die ihr mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet und die sie nie bereut hatte.
Seit einigen Jahren schon mied sie die unzugänglicheren Gebiete der Wälder, die sie im Stillen als die ihren betrachtete. Das dichte, wurzelige