Die Rückkehr des Wanderers. Wolfe Eldritch
ihren Lebensunterhalt als Kräuterfrau, und ihre Künste dienten in erster Linie den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes Flusswalde. Doch auch aus weiter entfernt gelegenen Ortschaften wie Grenzfelde oder Waldesrast kamen ab und an Menschen zu ihr. Es gab nicht mehr viele Frauen wie sie, und sie verstand ihr Handwerk trefflich. Die Knappheit an fähigen Heilerinnen lag in dem Erstarken der Kirche in den letzten zweihundert Jahren begründet.
In der heutigen Zeit führte man als weise Frau, wie man ihresgleichen in den alten Tagen genannt hatte, mit Glück und Geschick ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Und selbst das nur, wenn man so vorausschauend war, sich einen Platz zum Leben in ausreichender Entfernung zu größeren Ortschaften oder gar Städten zu suchen. Achtete man nicht auf diese Dinge, war es oft ein kurzes Leben. Eines mit einem frühen und höchst unerfreulichen Ende dazu.
In den ländlichen Gebieten waren die alten Traditionen oft noch ebenso gegenwärtig wie der Aberglaube. Die Lichtbringer waren weit genug weg, um keine unmittelbare Bedrohung darzustellen. Auch die Erinnerungen an den Segen, den eine Kräuterfrau für ein kleines Dorf darstellen konnte, war vielerorts bewahrt geblieben. Und doch bewegte man sich immer im trügerischen Schutz einer Grauzone zwischen dem Gesetz der Religion und dem Nutzen, den man für die Menschen darstellte. In den Ortschaften und Städten hatte die Kirche sich ebenso schnell und nachhaltig etabliert, wie sie den alten Glauben vernichtet hatte. Dort, wo Macht und Reichtum erwuchsen, waren Priester und andere Schmarotzer naturgemäß nicht weit.
Unter George II, dem Erleuchteten, hatte sich die Welt geändert. Den von der Kirche verliehenen Beinamen hatte er sich ebenso blutig wie eifrig verdient. Bis zu seinem Amtsantritt war der Glaube an den Lichtbringer vielerorts nur die Religion der Herren gewesen, kaum mehr als eine elitäre Sekte. Während seiner Regentschaft und mit seinem Segen aber begann eine Missionierung von nie dagewesener Kompromisslosigkeit. George ließ die von ihm auserkorene Glaubenslehre zur einzig wahren erklären, und er beließ es nicht bei einem Lippenbekenntnis. Er trieb die Verbreitung der kirchlichen Lehre mindestens ebenso eifrig voran, wie die Priester selbst. Dabei stand er ihnen weder in Ungeduld noch in Rücksichtslosigkeit nach. Die Lehren der alten Glaubensrichtungen erklärte man kurzerhand zur Ketzerei. Gleiches galt für die Anwendung von Magie, deren Ausübung in allen Reichsstädten verboten wurde. Der erste Schritt zu Ausrottung jeder Form von Magie im Königreich, die sich nicht der Kirche unterwarf.
Die Vernichtung der Magiergilden war nur eine von vielen berüchtigten Taten des Königs, der als der Erleuchtete in die Geschichte eingehen sollte. In den blutigsten Kämpfen seit den Gründerkriegen des Reiches zerschlugen die Truppen von König und Kirche schließlich die Gilden und schliffen ihre Türme. Alsbald galt jede Form nichtkirchlichen Wunderwirkens als Blasphemie. War der vor den Magierkriegen gegründete Templerorden Schwert und Schild der Kirche, so war die später ins Leben gerufene Inquisition ihr Dolch.
Diese Entwicklung, die mit einem enormen Machtgewinn für die Kirche einherging, sollte sich als unumkehrbar erweisen. Derartig tiefgreifende Veränderungen mussten über viele Jahre hinweg in einer Gesellschaft Wurzeln schlagen, um von Dauer zu sein. Ein baldiger Machtwechsel, ein neuer und weniger frommer König, hätte die Lage im Reich unter Umständen wieder verändern können. Die Zeit war jedoch auf der Seite der Kirche. George bekleidete mit knapp einem halben Jahrhundert die längste Regierungszeit in der Reichsgeschichte. Als er schließlich hochbetagt starb, war die Macht der Geistlichen unumkehrbar konsolidiert gewesen.
Heute, etliche Generationen später, gab es in jeder größeren Ortschaft zumindest eine Kapelle. Dort konnte man für die Gesundung von Krankheit und Verletzungen beten und spenden. Immerhin den Jüngern des Lichtbringers war damit geholfen, und mit ein wenig Glück fand man sogar einen Priester, der ein wenig von Heilkunde verstand oder gar dazu fähig war, echte Heilmagie anzuwenden. Es gab durchaus noch Geistliche, die über die Gabe der alten Magie verfügten. Diese gesegneten Brüder fand man allerdings eher in den Städten und Burgen der Reichen und Mächtigen.
In den ländlichen Gebieten war eine Präsenz der Kirche weniger gewinnbringend. Hier war das Leben als Kräuterfrau dieser Tage relativ sicher. Ohne Frage musste man trotzdem eine gewisse Vorsicht walten lassen. Sonst konnte es einem auch in dünn besiedelten Landstrichen passieren, dass man als Hexe auf dem Scheiterhaufen oder an einen Baum genagelt endete. Die Gefahr hierfür war natürlich viel geringer geworden, nachdem vor einigen Jahrzehnten das Grau über die Welt gekommen war.
Wenn man damit beschäftigt war, um das nackte Überleben zu kämpfen, gab es für gewöhnlich wichtigere Dinge zu tun, als alte Frauen an Bäume zu nageln.
Dedra war nicht alt genug, um sich an die Zeiten des religiösen Umbruchs vor zwei Jahrhunderten zu erinnern. Sie gehörte jedoch zu den wenigen Menschen, die noch wussten, wie direkter Sonnenschein aussah und sich anfühlte. Sie hatte eine ganze Weile vor dem Grau gelebt, das vor sechzig Jahren über die Welt gekommen war. Auch wenn diese Erinnerungen zunehmend verschwommen und unzuverlässig wurden. Das Phänomen, das alten Menschen ihre Jugenderinnerungen lebhaft erhalten blieben, während ihr Kurzzeitgedächtnis immer schlechter wurde, traf auf sie nicht zu. Die Vergangenheit schien für sie mit jedem weiteren Winter tiefer in einem Nebel zu verschwinden. Im Gegenzug wurde sie von der Vergesslichkeit verschont, die so viele Alte in den letzten Jahren befiel. Ihr Geist war klar und ihr Gedächtnis so gut wie eh und je. Eine kleine Entschädigung der Götter, die es nicht gab, dafür, dass die Arthritis langsam aber sicher ihre Gelenke auffraß, vermutete Dedra. Sie hatte vor dem Grau lange Zeit als Kräuterfrau gearbeitet, ohne als Hexe behelligt zu werden. Durchaus auch in größeren Städten. Das gelang, damals wie heute, vielen echten Hexen. Verbrannt wurden für gewöhnlich Frauen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Bevor sich der Himmel und damit die Welt verändert hatte, war Dedra bereits recht alt gewesen. Selbst in ihrer Jugend hätte sie wohl kaum ein Mann als hübsch bezeichnet. Aber sie war eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Als offensichtlich wurde, dass das Grau nicht auf ebenso plötzliche und mysteriöse Weise verschwinden würde, wie es gekommen war, begannen die Unruhen. Dedra beschloss damals, dass es an der Zeit war, sich einen ruhigen Platz zu suchen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie reiste eine Weile durch die dunkel gewordene Welt, wobei sie mit Glück, Erfahrung und Glamour die Wirren der ersten Jahre des Hungers und Blutvergießens überlebte.
Schließlich führte sie ihr Weg nach Flusswalde. Die vorherige Kräuterfrau, im Gegensatz zu ihr in der Tat nur eine einfache Kräuterkundige, war kurz zuvor gestorben. Sie war eine gute Heilerin gewesen, was es Dedra erleichtert hatte, das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Der meisten jedenfalls. Es waren einfache, aber für ihren Stand beinahe wohlhabende Leute, die hier lebten. Das Land war trotz des Grau noch fruchtbar, wenn auch der Überfluss alter Tage der Vergangenheit angehörte. Die Nähe zum Grenzland sowie der Fluss, an dessen Ufern das Dorf lag und dem es seinen Namen verdankte, trugen ihr Übriges zu dem hier herrschenden Wohlstand bei. Der Handel, der früher mit einigen Siedlungen aus dem Umland betrieben wurde, war freilich längst versiegt. Inzwischen wurde entweder nicht mehr genug Überschuss produziert um ihn als Handelsware anzubieten, oder es gab anderswo keine lohnende Bezahlung.
Dedra lies ihre Gedanken in die hinter ihr liegenden Jahrzehnte schweifen, während sie sich durch den Wald arbeitete. Ihr Stock, seit vielen Jahren ihr ständiger Begleiter, war hier kaum eine Hilfe. Sie merkte, dass sie sich dieser Tage immer öfter mit der stetig nebulöser werdenden Vergangenheit beschäftige. Aber was, zum Teufel, sollte es schon. Das war schließlich ein Anrecht der Alten.
Nach ihrer Ankunft in Flusswalde hatte Dedra geholfen, wo immer sie es vermocht hatte. Außerdem hatte sie nur das Nötigste für ihre Dienste verlangt und stets ein freundliches Wort für die gehabt, die zu ihr kamen. Natürlich gab es auch Menschen, die der alten Frau skeptisch gegenübergestanden. Sie hatte etwas Merkwürdiges, nicht Greifbares in Benehmen und Aussehen, das auf einige Leute abstoßend wirkte. Was die einen als die exzentrische Schrulligkeit einer ansonsten umgänglichen Greisin betrachteten, erschien anderen als unheimlich und befremdlich.
Diese misstrauischen Menschen gab es allerorts und sie stellten stets ein Problem dar, dessen man sich sorgfältig annehmen musste. Kirche und Inquisition mochten auf dem Land weit weg sein, doch eine Hexe war auch in den traditionellen Mythen durchweg als gefährliche und düstere Kreatur dargestellt worden. Im Grunde lief