Kullmann auf der Jagd. Elke Schwab

Kullmann auf der Jagd - Elke Schwab


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wollte er bleiben, weil er dort alles machen durfte, was ihm Spaß machte. Steiner war sein Freund, er war gut zu ihm. Papa war immer so streng.

      Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, öffnete das Fenster und schaute zum Boden hinunter. Er konnte gut klettern. Aber der Boden war aus Beton. Er könnte sich wehtun.

      Wieder hörte er die Stimme von Papa. Hastig verschloss er das Fenster, weil Papa nicht sehen durfte, dass er weglaufen wollte. Dann würde er noch lauter schimpfen.

      Papas Stimme klang gar nicht böse. Er lachte sogar.

      Da waren noch mehr Stimmen zu hören.

      Neugierig presste Micky sein Ohr an die Tür. Sie war leider verschlossen. Aber unten redeten alle so laut, dass er jedes Wort auch so verstand. Sein Bruder Olli war dabei und eine helle Stimme, die nicht von seiner Mutter kam. Die musste arbeiten – wie immer – weil Papa zuhause war.

      Da hörte er den Namen Moritz fallen. Alle lachten und sprachen davon, dass Steiner selbst zusehen müsste, wie er seinen Hund fände.

      Mickys Herz begann wild zu schlagen. Was war mit Moritz passiert?

      »Wir haben den Hund an einem Baum festgebunden. Dort findet Steiner den so schnell nicht«, hörte er Olivers Stimme. Er klang so fremdartig. Zu Micky war er immer nett. Aber jetzt hörte er sich richtig gemein an.

      »Gell, mein Schatz! Steiner wird die Anspielung verstehen.«

      »Ich will nicht, dass du mich Schatz nennst«, nörgelte die Frauenstimme. »Ich heiße Anne.«

      Darauf folgte ein undeutliches Brummen von Oliver, das Micky nicht verstand.

      »Von welcher Anspielung redest du?« Micky erkannte an der Stimme seines Papas, dass er ungeduldig wurde.

      »Dass er verschwinden soll.«

      Oliver lachte siegessicher.

      »Wo ist der Hund?«

      »An einem Baum, wo ihm nichts passiert.«

      »Die ganze Nacht?« Nun schrie Papa richtig. »Wie kannst du behaupten, es passiert ihm nichts?«

      Mickys Herz überschlug sich vor Schreck. Warum tat Oliver so etwas Niederträchtiges?

      »Du bist so dämlich, wie du aussiehst«, brummte Papa böse. »Wo ist der Baum?«

      Schweigen.

      »Ich rede mit dir, du Holzkopf!«

      »Es ist die alte Eiche an den Schwedenschanzen am Kreuzweg. «

      Dieser Satz genügte Micky, um zu wissen, wo Moritz steckte. Schon hing er an der Regenrinne, ließ sich hinabgleiten und lief so schnell er konnte zum Wald.

      Steiner überlegte gerade, den Rückweg einzuschlagen, als er etwas auf der Wiese wahrnahm, was sich auf ihn zu bewegte.

      Von Neugier getrieben beschleunigte er seine Schritte, bis er erkannte, dass Micky seinen Hund Moritz an einem Seil führte. Als Steiner den Namen seines Hundes rief, ließ Micky ihn los. Mit fliegenden Ohren und großen Sprüngen kam der Hund auf Steiner zugelaufen, sprang an ihm hoch und schleckte sein Herrchen vor Freude im ganzen Gesicht ab. Steiner war so euphorisch, seinen Hund lebendig und gesund wiederzuhaben, dass er ihn gewähren ließ.

      Micky eilte außer Atem hinterher. Als sich ihre Blicke trafen, lachte Micky ihn mit einer Herzlichkeit an, die Steiner unverhofft dazu verleitete, den Jungen einfach in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. Er war so glücklich, dass er sich zu einer Handlung hinreißen ließ, die er sonst niemals getan hätte. Micky stellte die Reaktion nicht in Frage – im Gegenteil, er freute sich und zeigte es auch ungeniert, indem er die Umarmung erwiderte.

      Als Steiner von ihm ließ, staunte er über sich selbst. Er beneidete den Jungen für seine Gabe, alles so zu akzeptieren, wie es war. Er selbst grübelte ständig – eine Eigenschaft, die ihm nichts nützte, dafür das Leben komplizierter machte.

      Erst jetzt bemerkte er Mickys zerrissene Hose. Die Haut an seinen Schienbeinen zeigte Schürfwunden. Auch die Hände waren blutverschmiert.

      »Meine Güte! Was ist passiert?«

      »Ich bin aus dem Fenster geklettert, weil Papa mich eingesperrt hat.«

      »Warum machst du so gefährliche Sachen?«

      »Ich habe gehört, dass sie Moritz an einen Baum angebunden haben. Da musste ich doch helfen.«

      »Micky, wie kann ich das jemals wieder gutmachen?«

      Micky lachte ihn einfach nur glücklich an, was Steiners Herz schwer werden ließ. Diese Gutmütigkeit brachte ihn aus dem Konzept.

      »Danke, Micky! Ohne dich hätte ich meinen Hund niemals gefunden«, sprach er salbungsvoll. »Ab sofort befördere ich dich zu meinem Adjutanten!«

      Verständnislos schaute Micky seinen großen Freund an. Steiner erklärte ihm: »Das ist eine Auszeichnung. Du bist jetzt meine rechte Hand. Das heißt, wir arbeiten zusammen.«

      Damit gelang es ihm, Micky von der Wichtigkeit seiner neuen Funk­tion zu überzeugen. Mit einer stürmischen Umarmung reagierte der Junge darauf.

      Wie eine kleine Familie marschierten sie den Berg hinunter zum Hoflimberg. Nach der gewissenhaften Versorgung von Mickys Wunden, deckten sie gemeinsam den Tisch für das Frühstück. Dabei arbeiteten sie ohne Worte in einer Harmonie, die in Steiner längst vergessene Vatergefühle hervorrief.

      Wie lange war es her, dass er sich als glücklicher Vater einer Tochter fühlte? Oft fragte er sich, wie sie heute wohl aussah, was aus ihr geworden war, was für ein Leben sie führte. Seine Frau hatte ihm nach dem gescheiterten Einsatz vor fünfzehn Jahren das gemeinsame Kind weggenommen. Er hatte kein Besuchsrecht bekommen und die Entscheidung einfach akzeptiert. Er hatte geglaubt, kein guter Vater sein zu können.

      Heute sah er die Dinge anders.

      Da saß er Micky gegenüber, einem zwanzigjährigen Jungen mit Down-Syndrom und spürte Stolz, weil sich Micky ausgerechnet ihn zum Freund gewählt hatte. Für Steiner war das nicht nur Freundschaft, sondern auch eine Verantwortung. Micky war nicht seine erste Erfahrung dieser Art. Steiner wusste genau, dass Menschen mit Down-Syndrom durch ihre Arglosigkeit schutzbedürftig waren.

      Steiner wollte Micky Schutz bieten.

      Nach dem Frühstück bestand Micky darauf, zu Fuß nach Hause zu gehen. Steiner stellte sich ans Fenster und schaute ihm nach, wie er mit schaukelnden Armen, schwingendem Gang und wippendem Kopf das Grundstück verließ und den Weg einschlug, der hinab in das Dorf Wallerfangen führte. Hinter dem gusseisernen Tor verschwand er aus Steiners Blickfeld.

      Er hörte die vertrauten Geräusche der Haushälterin, die das Mittagessen zubereitete, spürte den vertrauten Körper seines Hundes an seinem Bein und die Zunge, die seine Hand ableckte. Ein Blick in die großen, braunen Augen dieses schönen Tieres veranlasste Steiner dazu, Moritz nach Verletzungen abzusuchen. Vermutlich war der Hund nicht freiwillig mitgegangen.

      Aber er fand nichts. Sein Fell war makellos. Wie war das möglich?

      Kopfschüttelnd schnallte er die Leine an und brach auf. Es wurde Zeit, wieder in den gewohnten Rhythmus zurückzufinden.

      Arbeit gab es genug.

      Jürgen Schnurs Bemerkung »Du lebst und arbeitest in diesem Dorf, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen« veranlasste Steiner dazu, an diesem Abend Hoflimberg zu verlassen. Die Neugier trieb ihn nach Wallerfangen, zumal der Mordfall Zündstoff für die geschwätzigen Dorfbewohner sein musste.

      Bedächtig steuerte er seinen Wagen über den unbefestigten Weg. Plötzlich fand er sich im Scheinwerferlicht eines anderen Autos. Er verlangsamte sein Tempo, rollte auf den Wagen zu. Die Beifahrertür stand offen. Steiner parkte vor dem verbeulten Opel Astra, stieg aus und ging zur Fahrerseite. Dort saß Siegmund Gerstner, der Oberlehrer, wie sie ihn im Dorf nannten. Er war besoffen, hatte eine Blessur am rechten Auge und grinste dämlich.

      »Was ist hier


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