Kullmann auf der Jagd. Elke Schwab
er direkt davor stand, kam der nächste Schreck. Es war ein Reh, das sich in einer heimtückischen Falle verfangen hatte. Die Schlinge war an dem Baum befestigt und, nachdem der Kopf des Tieres sich darin verfangen hatte, in die Höhe geschnellt. Das Tier hatte sich qualvoll erhängt.
Erschrocken über den grotesken Anblick, wich Steiner zurück. Erst nach einigen Sekunden wusste er, was zu tun war. Er nahm sein Messer heraus, schnitt das Seil durch und legte das Tier auf der Erde ab. Mit einer Taschenlampe untersuchte er den Kadaver. Das Reh war schon lange tot, also keine Notwendigkeit, es auszuweiden und in die Wildkammer zu befördern. Also lud er es in seinen Wagen und beschloss, am nächsten Morgen Jürgen Schnur den Kadaver zu zeigen.
Kapitel 7
Der neue Morgen begann mit einem Geräusch, das Steiner vertraut vorkam. Seine Müdigkeit hinderte ihn daran, sofort zu reagieren. Schon leckte ihm Moritz über das Gesicht, was besser wirkte als jede kalte Dusche.
Erst jetzt erkannte Steiner die ungewöhnliche Situation. Jemand machte sich vor seinem Haus zu schaffen, ohne dass der Hund anschlug.
Er zog sich an und trat hinaus. Moritz verschwand blitzschnell aus Steiners Blickfeld. Hastig folgte Steiner ihm. Im hinteren Teil des Geländes erblickte er Micky, wie er gerade ein großes Loch mit angehäufter Erde zuschüttete. Steiner ahnte, dass dort der Rehkadaver vergraben worden war.
»Wie schaffst du es, so früh hier oben zu sein?«
Micky lachte seinen Freund an: »Ich muss dir doch helfen. Schließlich bin ich dein Adjutant.«
Das zufriedene Lächeln im Gesicht des Jungen versetzte Steiner einen Stich. Er wusste, dass Micky es gut meinte. Gleichzeitig erkannte er, dass er Micky niemals begreiflich machen konnte, dass ihm das Verscharren der Tiere mehr schadete als nützte. Doch wie sollte er Micky von seiner guten Absicht abhalten, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen?
»Nach dieser anstrengenden Arbeit hast du bestimmt Hunger?« Etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein.
Micky nickte.
Steiner wusste, dass Micky sich zu nachtschlafender Zeit aus dem Elternhaus schlich, weshalb er grundsätzlich mit leerem Magen bei Steiner auftauchte. So war ein gemeinsames Frühstück mit Micky für Steiner inzwischen zur Gewohnheit geworden – und noch mehr. Er genoss Mickys Gesellschaft.
Während sie am reich gedeckten Tisch saßen, überlegte Steiner, wie viele Kadaver Micky inzwischen schon vergraben hatte. Immer waren es Opfer mutwilliger Zerstörung. Anfangs hatte er dieser Tatsache keine Bedeutung beigemessen. Inzwischen sah er das anders. Zu viele Tiere wurden überfahren. Im Wald herrschte kein reger Autoverkehr; im Dorf lief das Wild nicht auf der Straße. Also waren es keine Zufallsopfer, die vor seiner Tür abgelegt wurden. Jetzt gesellten sich auch noch todbringende Schlingen dazu. Das Wild war in seinem vertrauten Wald nicht mehr sicher. Der Anblick des erhängten Tieres haftete noch in seinem Kopf. Viele Rehe und noch mehr Hasen ließen ihr Leben auf unwaidmännische Weise, wodurch Steiner sich nicht in der Lage sah, seinen Abschussplan für dieses Jahr einzuhalten.
Der Gedanke ließ ihn frösteln. Ließen die Dorfbewohner nichts aus, ihn um den Posten des Revierjägers vom Limberg zu bringen?
Moritz begann zu bellen. Schritte näherten sich dem Haus.
Hastig stand Steiner auf und eilte zur Tür. Bevor sein Besuch klingeln konnte, hatte er sie aufgerissen.
Vor ihm stand Esther Weis, die Kriminalkommissarin.
»Na, wenn das mal keine positive Überraschung ist?«
»Ich muss Sie enttäuschen«, entgegnete die blonde Frau. »Wir haben den Beschluss von der Staatsanwaltschaft bekommen, Ihr Haus zu durchsuchen.«
Steiners Gesicht wirkte zunächst ratlos. Einige Sekunden verstrichen, bis er endlich reagierte. Schicksalsergeben raunte er ihr zu: »Eine genaue Untersuchung meines Körpers reicht Ihnen wohl nicht. Sie wollen mein ganzes Leben durchleuchten.«
Esther verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, bevor sie meinte: »Ich habe das nicht veranlasst. Das war Jürgen Schnur, mein Chef.«
»Tun Sie nur, was er sagt?«
»Solange es dienstlich ist, ja!«
»Das verstehe ich als Abweisung, ich bin enttäuscht.« Steiner grinste Esther von oben herab an.
Sie trippelte nervös. »Wer wird hier gefilzt, Sie oder ich?«
»Finden Sie es heraus!« Steiners Grinsen nahm mokante Züge an.
»Sie schaffen es doch tatsächlich, mich in Verlegenheit zu bringen«, gestand sie. »Dabei dachte ich, ich sei abgebrüht.«
»Das macht wohl das Alter aus.«
»Ich lebe auch nicht erst seit gestern.«
»Aber zwischen uns liegt ein großer Altersunterschied. Ich könnte Ihr Vater sein.«
Esther erwiderte seinen Blick nicht, sie schaute auf die eintreffenden Kollegen, die gleich mit ihrer Arbeit begannen – allen voran Jürgen Schnur.
»Jetzt können Sie so richtig meine Privatsphäre unter die Lupe nehmen.« Steiner feixte. »Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht.«
»Es reicht jetzt«, funkte Schnur dazwischen.
Sofort änderte Steiner seinen Tonfall, als er mit dem ehemaligen Kollegen sprach: »Du spielst dich hier auf wie ein Despot. Hast du vergessen, wer ich bin?«
»Ich glaube, dass du etwas vergessen hast«, konterte Schnur. »Heute leite ich hier die Ermittlungen im Fall Bernd Schumacher. Inzwischen bin ich zum Hauptkommissar mit Leitungsfunktion befördert worden und sehe zu, dass ich meiner Aufgabe gerecht werde.«
»Das hat aber ganz schön lange gedauert, bis du endlich mal Karriere gemacht hast«, stichelte Steiner. »Warum wohl?«
»Während du dich damals Tag und Nacht um die Arbeit gerissen hast, hatte ich eine Familie, die meine Aufmerksamkeit brauchte. Bis heute bereue ich meine Entscheidung nicht.«
Die Parade saß. Steiner schluckte.
In einem versöhnlicheren Tonfall fügte Schnur an: »Und dann trittst du ganz plötzlich vom Dienst zurück. Nicht etwa, um deine Familie zurückzugewinnen – nein, weil ein Einsatz ohne dein Verschulden schief gelaufen ist. Warum?«
»Warum was?« Steiner fühlte sich überrannt.
»Warum hast du damals das Handtuch geworfen? Dein Einsatz wurde hundert Mal bis ins Detail nachbereitet. Die Dienstaufsicht konnte keinen Fehler deinerseits feststellen. Es war ein dummer Zufall, dass der Hund dieser Frau einfach nicht hören wollte.«
Steiner schwieg.
»Bernd Schumacher hatte den tödlichen Schuss abgefeuert. Nicht du. Auch nicht einer deiner Männer auf deinen Befehl hin. Das wurde zweifelsfrei bewiesen«, sprach Schnur weiter.
»Schumachers Komplize wurde tödlich getroffen, als es auf meinen Befehl hin zum Schusswechsel kam«, hielt Steiner dagegen. »Durchsiebt von einer MP!«
»Das war Notwehr. Es wurden überall Projektile von Schumachers Waffe gefunden.«
»Und der dritte Mann, der die Entführung organisiert hat, ist spurlos verschwunden. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf ihn«, zählte Steiner weiter die Liste seiner Fehler auf.
»Schumacher hat ihn niemals verraten. Wie sollten wir den Mann ausfindig machen, von dem wir nichts wussten – weder Namen, noch Aufenthaltsort?«
»Wer sagt uns, dass dieser dritte Mann nicht weiter Kindesentführungen plant und ausführt?«
»Das oblag nicht deinen Aufgaben«, hielt Schnur dagegen. »Den dritten Mann zu finden war die Aufgabe des Kommissariats für Entführung, Erpressung und Geiselnahme. Warum sich für andere den Kopf zerbrechen?«
Steiner verstummte.
»Niemand