Veyron Swift und das Juwel des Feuers. Tobias Fischer
Assistenten an, der zwei Meter weit weg saß. Jessica ärgerte sich, dass Nagamoto sie so lange warten ließ. Ein wichtiger Termin in London drängte, bei dem sie den anderen Vorstandsmitgliedern von Energreen Honig ums Maul schmieren musste.
Harry Wittersdraught öffnete den kleinen Aktenkoffer, kramte das Notebook heraus, klappte es auf und zeigte ihr die Tabellen, die er in der letzten Nacht angefertigt hatte. Der gute Harry war das genaue Gegenteil von Jessica: ein dünnes Männchen mit hängenden Schultern, leicht krummem Rücken und einem ausdruckslosen, blassen Gesicht. Er trug eine kreisrunde Brille, mit der er mehr nach Harry Potter denn nach Investmentbanker aussah. Sein Anzug saß schlecht; ständig nestelte er nervös an seinem Jackett herum. In ihren Augen war er eigentlich kein richtiger Mann, sondern eine willenlose Arbeitsdrohne. Widerstandslos ließ er sich ihren Kommandoton gefallen und erwies sich als ausgesprochen gewissenhaft und fleißig. Keinesfalls der Typ Mann, mit dem sie je eine Nacht verbracht hätte. Wahrscheinlich würde Harry sogar schreiend davonrennen, wenn sie sich vor ihm entkleidete – oder bewusstlos umfallen.
Diese boshaften Gedanken ließen ein kurzes Lächeln über ihre vollen, kirschroten Lippen zucken. Zum Glück bemerkte es Harry nicht, der für gewöhnlich so etwas sofort falsch verstand. Sie wusste, dass er gern in ihrer Nähe war. Vielleicht hegte er romantische Gefühle, aber er war ein zu großer Feigling, als dass er das jemals zugeben würde. Wahrscheinlich ertrug er ihre Gemeinheiten deshalb mit solchem Gleichmut. Ihr war es egal, solange er funktionierte.
»Alles da, Jessica. Das sind die Wachstumskurven; die manipulierten Kurven sind die hier. Aber sei vorsichtig: Nagamoto ist wild entschlossen, einer Übernahme keinesfalls zuzustimmen. Eigentlich können wir das Ganze sofort abblasen und zusehen, dass wir unseren Flieger noch erwischen«, sagte Harry. Seine Stimme war ebenso schwächlich wie seine Gestalt – leise, heiser und fast piepsig hell.
Jessica atmete scharf aus und sah ihn direkt an. Er hielt ihrem Blick nicht lange stand. »Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt? Hier springt ein dicker Bonus für mich raus, wenn ich es schaffe, Nagamoto rumzukriegen. Den Flieger erwischen wir schon noch, der soll gefälligst warten«, blaffte sie.
Wittersdraught rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. »Da gibt es ein kleines Problem«, meinte er halblaut und erntete ein zorniges Stirnrunzeln. »Ein Sturmtief über dem Atlantik, schon seit einer Woche. Es will einfach nicht weiterziehen. Auf jeden Fall wurden viele Flüge gestrichen. Fast kein Privatjet bekommt Starterlaubnis, auch der unsere nicht«, erklärte er.
Für einen kurzen Moment wurde sein Wesen von so etwas wie Stolz und Größe beseelt. Wenn er auch sonst unbeholfen und unterwürfig war, Wittersdraught war ein wahres Lexikon. Ihn konnte Jessica nach fast allem fragen, sein Wissensvorrat schien nahezu unbegrenzt. Zu ihrer Erleichterung machte er daraus nicht mehr.
»Sag bloß, das heißt, ich muss Linie fliegen? Harry, das geht gar nicht! Da stehe ich wie eine Idiotin gegenüber den anderen da. Niemand fliegt heute noch Linie, nur der Pöbel von der Straße«, protestierte sie, doch Harry schüttelte energisch den Kopf.
»Der Umweg, den unser Privatjet nehmen müsste, um dieses Unwetter zu umfliegen, wäre zu groß, um eine rechtzeitige Ankunft in London zu garantieren. Aber ich habe den schnellsten verfügbaren Linienflug gebucht, natürlich Erste Klasse. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen. In Zukunft wirst du nur noch mit dieser Maschine fliegen wollen«, erwiderte er und grinste begeistert.
Jessica winkte genervt ab. Sie wollte jetzt keinen technischen Vortrag hören; sie musste einen sturen Manager über den Tisch ziehen. »Hauptsache, ich komme rechtzeitig nach London. Sieh lieber zu, dass bei der Präsentation kein Mist passiert. Die Zahlen sprechen für sich, damit werde ich ihn schon weich kochen. Wenn nicht … nun, vielleicht spricht er auf andere Methoden besser an«, sagte sie und öffnete den obersten Knopf ihrer Designerbluse.
Harry wurde sofort rot im Gesicht. Offenbar hatte er etwas Wichtiges im Aktenkoffer vergessen, so schnell, wie er dort hineinsah. Jessica konnte seine Gedanken erraten, spürte förmlich seine Qual, als er sich ausmalte, was sie mit Nagamoto vielleicht alles anstellen würde – aber niemals mit ihm.
»Sie können sich die Mühe sparen, Miss Reed. Ich bin in großer Eile und muss den nächsten Flug nach London erwischen«, tönte plötzlich eine tiefe Stimme durch den Konferenzraum.
Jessica schreckte hoch und fuhr herum. Nagamoto kam aus einem Nebenzimmer, nicht aus seinem Büro. Er hatte einen Umweg genommen, um von dort aufzutauchen, wo sie ihn nicht erwartete, um sie gleich wissen zu lassen, dass er hier der Boss war.
Das war er auch zweifellos. Die Luft schien sich zu verändern, als er den Raum betrat. Mit stolzen, zugleich erhabenen Schritten kam er auf sie beide zu, umkreiste die Sitzgruppe und setzte sich ihnen gegenüber. Er reichte zuerst ihr und anschließend Harry die Hand. Gemeinerweise drückte er bei Jessica sehr fest zu. Sie verzog jedoch keine Miene, gönnte ihm das Vergnügen nicht, ihm zu zeigen, dass es durchaus wehtat. Harry wagte nicht einmal, ihm in die Augen zu sehen. Er ergriff nur schwach seine Hand und zog sie sofort wieder zurück. Er ist und bleibt ein Würstchen, dachte sie angewidert.
»Sie haben mein Angebot noch gar nicht gehört«, entgegnete sie mit einem frechen Lächeln und schlug ihre Beine so übereinander, dass Nagamoto gar keine andere Wahl hatte, als hinzuschauen. Jessica trug einen engen Minirock aus schwarzem Leder, der perfekt zu ihrer nicht minder engen und vorteilhaft ausgeschnittenen Bluse passte. Doch Nagamoto ließ sich weder von den langen Beinen noch von ihrem tiefen Dekolleté aus dem Konzept bringen.
»Das Geld Ihres Hauses interessiert mich nicht, Miss Reed, ganz gleich, wie hoch Ihr Angebot sein mag. Ich bin für das Wohl meines Unternehmens verantwortlich, und ich wäre ein schlechter Beschützer, wenn ich es aus purer Gier Ihrem Haus überließe«, erwiderte er. Seine troff aus jeder Silbe.
Reed hatte jedoch sofort eine Antwort parat. »Borgin & Bronx wollen ins Energiegeschäft einsteigen. Und Energreen ist die perfekte Plattform: Erfahren, zukunftsorientiert, vielseitig. Ihr Unternehmen besitzt riesige Wachstumspotenziale, und wir verfügen über das Kapital für dieses Wachstum. Bedenken Sie nur die Höhe der Summe, die Borgin & Bronx bereit sind, in Ihr Unternehmen zu investieren.«
Nagamoto brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir sind sehr gut aufgestellt, auch für schwierige Zeiten. Und Expansion und Wachstum sind nicht unsere primäre Firmenstrategien. Was mich interessiert, ist die Frage, was Sie meinem Unternehmen sonst noch zu bieten haben. Was wird mit den Beschäftigten geschehen, wenn Sie erst einmal die Aktienmehrheit halten? Entlassungen natürlich, die altbewährte und billigste Methode, da sich so am schnellsten Erträge erwirtschaften lassen. Nein danke, das widerspricht der Philosophie unseres Hauses.«
Seine Stimme war einfach zu gewaltig, um ihm frech ins Wort zu fallen. Jessica sammelte sich eine Sekunde. Der Mann war so abweisend wie ein Panzer. Auf ihre optischen Reize sprang er nicht an, wollte nicht einmal zuhören. Ehrlich gesagt war sie vollkommen ratlos, welche Strategie sie bei ihm noch anwenden konnte. Klar war nur, dass sie weder das zuckersüße, naive Mäuschen noch den liebeshungrigen Vamp zu geben brauchte (zwei Rollen, die sie sehr gut beherrschte). Also versuchte sie es in einem Anflug unüberlegter Verzweiflung mit freundlichen Drohungen. »Es herrschen ganz klar noch einige Diskrepanzen zwischen unseren Positionen. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Aktionäre von Energreen die richtige Entscheidung fällen werden – selbst wenn Sie und ich uns heute noch nicht einigen sollten.«
Nagamoto begann zu lächeln. »Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Aber ich garantiere Ihnen: Es wird kein Geschäft zwischen uns geben, Miss Reed; ganz gleich, von welcher Art. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass Ihr Haus keinen nennenswerten Stimmanteil meines Unternehmens in die Finger bekommt«, sagte er und erhob sich. »Leider warten noch andere Termine auf mich. Aber bleiben Sie ruhig noch sitzen und genießen Sie die Aussicht. Mrs. Watson wird Sie später nach unten bringen.«
Er schüttelte zum Abschied erneut Reeds Hand, dann die von Wittersdraught, der angelegentlich zu Boden starrte, um den strengen Blick seines Gegenübers nicht ertragen zu müssen.
Jessica schaute Nagamoto hinterher, ihren Zorn nur mühsam unter Kontrolle haltend. Noch nie hatte sie sich eine derartige Abfuhr eingefangen. Sie war es