Veyron Swift und das Juwel des Feuers. Tobias Fischer
vom Stil her. Tom schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Er hoffte inständig, dass Mr. Kellerham sich nicht blicken ließ, denn er hatte keine Ahnung, wie man Tee zubereitete, geschweige denn, wie er ihn auf genau 83 Grad erhitzen sollte.
Es war bereits Nacht, als es an der Haustür klingelte. Tom schrak aus dem großen, ledernen Ohrensessel hoch. Er war doch tatsächlich eingeschlafen. Es klingelte wieder, doch nichts regte sich im Haus. Also war Veyron immer noch nicht zurück. Es würde Tom nicht einmal wundern, wenn es Veyron selbst wäre, der da klingelte. Gut möglich, dass er den Schlüssel einfach vergessen hatte – so überstürzt, wie er oft aufbrach. Oder war es vielleicht Mr. Kellerham? Tom schaltete den Fernseher aus und ging zur Tür. »Wer ist da«, fragte er mit gespielt tiefer Stimme in die Sprechanlage, um möglichst autoritär zu wirken.
»Ich bin’s, Jane«, hörte er eine vertraute Stimme.
Tom war erleichtert, das Teemachen blieb ihm fürs Erste erspart. Er öffnete die Tür. Jane trug ihre Uniform, ihr Besuch war also hochoffiziell.
»Ist Veyron da? Gregson schickt mich«, sagte sie und lugte in den Flur hinein.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin allein. Veyron ist irgendwo unterwegs, um ein paar Klienten zu besuchen. Aber er hat sein Telefon dabei«, antwortete er.
Plötzlich vernahm er von oben die tiefe Stimme seines Paten. »Irrtum, er ist bereits wieder zurück. Einbrecher hätten bei deinem Schlaf leichtes Spiel, mein lieber Tom.« Veyron stürmte die Treppe nach unten, sprang zur Garderobe und schlüpfte blitzschnell in seinen dunklen Mantel.
»Warum machen Sie nicht auf, wenn’s klingelt?«, fragte Tom säuerlich. Er mochte es gar nicht, wenn sich jemand über ihn lustig machte.
Veyron zuckte lediglich mit den Schultern. »Du warst bereits im Erdgeschoss und damit näher an der Tür. Das gab mir die Zeit, mich umzuziehen. Hallo, Willkins. Zu so später Stunde – im Auftrag von Gregson? Zweifellos Mord. Wohin fahren wir?«
»Pathologie. Gregson will, dass Sie sich eine Leiche ansehen. Papiere sind bereits ausgestellt«, sagte Jane und warf einen unsicheren Blick zu Tom. Sie war sich wohl nicht sicher, ob er das alles hören sollte.
»Da will ich mit«, rief Tom aufgeregt. Schon lange hatte er sich gefragt, auf welche Art Veyron für den Inspektor arbeitete. Nie wäre er darauf gekommen, dass es mit Leichen zu tun haben könnte.
Jane schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das geht nicht. Du bleibst hier. Das ist nichts für dich.«
»Warum nicht? Gefährlich wird es höchstwahrscheinlich nicht werden. Für gewöhnlich bleiben Leichen einfach nur regungslos liegen«, konterte Swift in bestgelaunter Stimmung. Er warf Tom einen scharfen, abschätzenden Blick zu. »Dir war es doch hier bisher recht langweilig, nicht wahr? Also los, zieh dir was über, und anschließend geht es mit Schwung weiter.«
»Das können Sie nicht machen, Swift! Tom ist erst vierzehn! Er ist ein Kind!«
»Mit vierzehn waren manche Burschen früher bereits Kriegsveteranen. Er kommt mit, oder ich bleibe auch hier. Und Sie können Gregson erklären, warum und wieso es schon wieder zu Verzögerungen kommt. Sie wissen ja, wie ihm das gefällt, wenn er mich persönlich holen muss – obwohl Sie das erledigen sollten.«
Jane warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Es war unschwer zu erkennen, dass sie ihm am liebsten in den Hintern treten wollte. »Was soll das, Swift?«
»Was soll was? Sie müssen schon präziser sein, Willkins, ansonsten weiß niemand, worauf Sie eigentlich hinauswollen.«
»Wieso wollen Sie Tom da hineinziehen? Er ist noch nicht bereit für so etwas. Er hat keine Ausbildung. Es ist nicht gut, ihn zu Verbrechen und Leichen mitzunehmen.«
»Beschweren Sie sich bei Gregson. Er wollte, dass ich mich um den Jungen kümmere. Jetzt bekommt er also die Gelegenheit, was zu lernen. Betrachten Sie es als einen Ferienjob. Also auf geht’s Tom. Du bist fertig? Gut! Fahren Sie uns zur Pathologie, Constable Willkins.«
Jane schüttelte noch einmal den Kopf, ging ihnen aber widerspruchslos voraus zum Polizeiwagen, und dann ging es los. Tom konnte seine Aufregung kaum verbergen. Endlich würde er Einblick in das große Geheimnis von Veyron Swift erhalten, endlich würde er alles erfahren. Und es hatte obendrein noch mit Leichen und Mord zu tun! Da würden die anderen Jungs in der Schule nicht mithalten können, ganz gleich, was sie in den Ferien erlebt hatten.
Die Fahrt zum Universitätskrankenhaus, wo sich die Pathologie befand, verlief schweigend. Wenn der Verkehr es zuließ, beobachtete Jane ihre beiden Passagiere ungehalten durch den Rückspiegel. Tom saß unruhig neben Veyron, rutschte vor Aufregung hin und her und spielte mit den Fingern. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Okay, um was geht es eigentlich? Wer wurde ermordet?«
»Eine junge Frau. Sarah Burrows, eine Studentin«, antwortete Jane.
Veyron beachtete sie beide gar nicht, sein Blick ging die ganze Zeit aus dem Fenster, an dem die Lichter der Stadt schnell vorbeizogen. Kurze Lichtblitze in der Dunkelheit, seinen stillen Gedanken vermutlich nicht unähnlich.
»Willst du uns nicht mehr erzählen? Was ist passiert? Gibt’s schon einen Verdächtigen«, fragte Tom neugierig.
Jane schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Er will es nicht«, sagte sie und nickte in Veyrons Richtung.
Tom schaute seinen Patenonkel verdutzt an. »Was? Sie fahren zu einem Tatort und wollen nicht genauer informiert werden? Was für eine Art Detektiv sind Sie denn eigentlich?«
Veyrons Kopf ruckte herum. »Erstens: Wir fahren nicht zu einem Tatort, sondern besuchen die Pathologie. Zweitens: Dass ich Detektiv bin, ist allein deine Vermutung. Ich sagte bereits, dass ich nicht im kriminalistischen Sektor tätig bin. Ich interessiere mich nicht für die Abgründe des menschlichen Daseins, sondern für ganz andere Aspekte. Nun zu deiner ersten Frage: Ich will deshalb nicht vorab informiert werden, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen, vollkommen unbeeinflusst und unabhängig. Das Gehirn des Menschen ist ein furchtbar fauler Apparat, Tom. Es will sich alles immer so einfach wie möglich machen. Sobald ich eine Theorie zu einer Sachlage von jemandem vernommen habe, sucht mein Gehirn nach Spuren, um das Gehörte zu bestätigen – oder es zu widerlegen. Es will sich die Mühe sparen, alles neu zu untersuchen und zu erforschen. Das macht die unabhängige Suche nach Informationen jedoch fast unmöglich. Es ist überhaupt ein großer Fehler des Ermittlungswesens, zuerst Zeugen zu befragen, anstatt zunächst den Ort des Geschehens – sei es Tatort oder Unfallort – genauestens zu untersuchen. Befragt man erst die Zeugen, hat man bereits ein Bild im Kopf. Bei der nachfolgenden Untersuchung werden daher wichtige Informationen bewusst oder unbewusst übersehen. Verstehst du das?«
»Hm, jaa … ich glaub schon. Aber eines will ich nicht so ganz kapieren: Warum fahren wir überhaupt dahin, wenn Sie nicht an Kriminalistik interessiert sind?«
»Wir fahren dahin, weil ich wissen will, ob das Opfer ganz banal ermordet wurde, oder ob der Mord auf eine, nun, sagen wir mal, unnatürliche Art und Weise bewerkstelligt wurde.«
Nun musste Tom lachen. »Wie kann man denn auf unnatürliche Weise ermordet werden? Mord ist Mord. Oder nicht?«
Veyron schenkte ihm einen enttäuschten Blick. »Aus juristischer Sicht gibt es keinen Unterschied, das stimmt«, erwiderte er seufzend. »Aber es macht sehr wohl einen Unterschied, ob der Täter ein gemeiner Straßenräuber oder aber ein Vampir ist, findest du nicht?«
Für einen Moment wusste Tom darauf nichts zu antworten. Er starrte Veyron nur aus großen Augen an, während sein Gehirn zu entscheiden versuchte, ob er auf den Arm genommen wurde, oder ob Veyron verrückt war. »Ein Vampir? Hier? Mitten in London? Sie verarschen mich!«
Veyron zuckte nur mit den Schultern. Tom sah zu Jane, die jedoch gar nichts dazu sagte. Mit starrem Blick konzentrierte sie sich auf die Straße und tat so, als hätte sie nichts gehört. Irgendwie war es beängstigend, dass sie Veyron nicht wegen seiner blöden Gruselgeschichte zurechtwies. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen.
Sie waren kaum