Eine neue Göttin für Myan. Sigrid Jamnig

Eine neue Göttin für Myan - Sigrid Jamnig


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weiß, was du meinst, aber er hat sich so verzweifelt am Telefon angehört.“ Nichts, was Ian sagte, schien Florians Meinung zu ändern. Ihm war sichtlich langweilig.

      „Lass uns einfach nach Hause gehen! Er wird nicht mehr kommen!“, jammerte er. Seine Brüder waren geneigt, ihm zuzustimmen.

      Kapitel 1

      Mit einer Endgültigkeit fiel die Tür hinter Ally ins Schloss. Es schien in dieser Welt keinen Platz für sie zu geben. Manchmal wünschte sie sich, etwas Besonderes zu sein, aber leider war sie einfach nur ein ganz durchschnittlicher Mensch ohne besondere Begabungen. Nur schien das dem Chaos, das sie ihr Leben nannte, noch nicht zu reichen. Nein, sie musste ja auch unbedingt diese bescheuerten Ängste mitbekommen. Wozu das gut sein sollte, entzog sich vollkommen ihrer Kenntnis. Und so konnte sie ihren Mitmenschen noch nicht einmal mitteilen, dass sie eigentlich ganz normal war. Ally war dazu verdammt, für immer allein in ihrer stillen Welt zu sein. Nur gelegentlich besucht von ihren wenigen Freunden, die sie manchmal so selten sah, dass sie das Gefühl hatte, dass es ihnen nicht einmal auffallen würde, wenn sie nicht mehr da wäre.

      Es war zum Heulen. Ally stand im Flur ihrer Wohnung. Die langen schwarzen Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich schon einige Strähnen gelöst hatten, und ihre dunkelbraunen Augen ganz rot. An ihren Wangen zogen sich nasse Spuren. In ihr tobten die unterschiedlichsten Gefühle. Sie wollte mit ihrem Kopf gegen die Wand schlagen oder einfach irgendetwas kaputt machen. Vielleicht würde das endlich ihrem Kopf eintrichtern, dass sie keine Angst zu haben brauchte.

      „Warum kann ich nicht einfach anders sein?“, flüsterte die junge Frau hoffnungslos. Sie hatte das Gefühl, dass die ganze Welt sich gegen sie verschworen hatte, dabei wollte sie doch einfach nur einen guten Job und einen Mann in ihrem Leben. War das denn wirklich zu viel verlangt?

      In ihrer rechten Hand hielt Ally einen schlichten weißen Umschlag. Ein wütend wieder hineingestopfter Brief lugte heraus. Es war eine weitere Absage. Wieder wollte sie eine Firma nicht einstellen. Dabei glaubte Ally, dass sie eine gute Sekretärin sein könnte, wenn ihr nur endlich jemand eine Chance geben würde. Ihr kam es so vor, als hätte sie sich schon bei hunderten von Firmen beworben, doch sie bekam immer dieselbe Antwort: „Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ...“ Ally konnte diese Worte schon nicht mehr hören. Schön langsam glaubte sie, dass diese Firmen die Sache gar nicht bedauern würden, sondern einfach nur möglichst höflich sein wollten.

      Sie schlug mit der Hand gegen die Wand. Dabei fiel der Brief auf den Boden. Ally war so wütend, vor allem auf sich selbst. Was hatte sie nun schon wieder falsch gemacht? War sie wieder einmal zu schüchtern gewesen? Ally konnte es nicht genau sagen. Aber es schien ihr, als würde sich bei einem Vorstellungsgespräch jedes Wort aus ihrem Mund vollkommen dumm anhören. Als würde man ihr ihre Ängste an der Nasenspitze ansehen. Und dann wusste sie auch nie, was sie sagen sollte. Kein Wunder also, dass sie niemand einstellen wollte.

      Alyssa, so ihr richtiger Name, konnte es einfach nicht verstehen, dass ihr nichts so recht gelingen wollte. Zuerst hatte sie ihre Matura mehr schlecht als recht gemacht und dann auch noch ihr Informatikstudium abgebrochen, weil sie die Programmiersprachen einfach nicht verstanden hatte. Und jetzt schaffte sie es einfach nicht, einen Job zu finden. Sie kam sich wie eine Versagerin vor. Nichts hielt sie auf dieser Welt. Insbesondere nachdem sie vor wenigen Wochen aus der Wohngemeinschaft mit ihrer besten Freundin ausziehen musste. Jetzt war sie nur noch alleine.

      Ally hatte genau zwei Freunde: ihre beste Freundin Mira, welche vor kurzem mit ihrem Freund Patrick zusammengezogen war und an der Uni Medizin studierte, und ihre ältere Schwester Sira, die vor einigen Jahren ihren langjährigen Freund Hannes geheiratet hatte und als Kellnerin arbeitete. Beide hatten neben Uni und Arbeit nicht wirklich Zeit, sich mit ihr zu treffen. Mira hatte schrecklich viel zu lernen und auch noch ihren Nebenjob. Sira hatte solche Arbeitszeiten, dass sie immer dann arbeitete, wenn Ally gerade Zeit hatte.

      Da es Alyssa nun aber schrecklich schwerfiel, neue Leute kennenzulernen, hatte sie es bisher nicht geschafft, sich mit den Leuten aus ihrem Kirchenchor oder dem AMS-Kurs, zudem man sie verdonnert hatte, anzufreunden. Der Chor war das einzige Hobby, das Ally in letzter Zeit wirklich Freude machte. Er war der einzige Lichtblick in ihrer düsteren und stillen Welt. Der Grund, warum sie trotz allem noch jeden Tag das Bett verließ, obwohl alles nicht wirklich etwas zu bringen schien. Sie liebte es, dort zu sein und zu singen. Niemand achtete speziell auf sie. Ally konnte in der Menge untergehen und war frei, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Selbst wenn ihr gewisse Kirchenlieder nicht so zusagten, war sie doch während des Singens frei von ihren Ängsten. Doch sobald ein Lied zu Ende war, kehrten sie immer wieder zurück.

      Nur schien dieser Lichtblick nicht mehr den gewünschten Effekt zu haben. Ally hatte einen Knoten in der Brust, welcher sie gefangen hielt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie starrte auf den Brief, der am Boden lag.

      „Ich will nicht mehr“, flüsterte sie leise. Schon öfters hatte sie solche Gedanken gehabt. Das Leben hatte keinen Reiz mehr. Ally hatte einfach genug. Sie wollte sich nicht mehr mit ihren dummen Ängsten herumschlagen. Sie wollte nicht mehr schüchtern sein. Sie wollte endlich frei sein.

      Alyssa stieß sich von der Wand ab und ging in die Wohnküche. An der einen Wand rechts neben der Tür befand sich eine kleine Küchenzeile. Es war noch dieselbe Unordnung vorhanden, welche sie zurückgelassen hatte. Das Geschirr stapelte sich in der Spüle, aber Ally kümmerte sich nicht darum. Sie öffnete den hohen Schrank am rechten Rand der Küchenzeile. Ganz oben, im obersten Fach, war genau das, wonach sie suchte: Dort stand eine Flasche mit einer klaren alkoholischen Flüssigkeit und ein kleines weißen Plastiksäckchen. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, diese Dinge in diesem Schrank zu lagern. Angefangen hatte es mit einer kleinen Packung Schmerztabletten. Zuerst hatte sie die Tabletten nur wegen ihren Menstruationsbeschwerden gebraucht, aber wenige Tage später hatte sie eine weitere Schachtel mitgebracht. Da hatte sie sich dann gefragt, ob man daran sterben würde, wenn man genug von diesen Tabletten mit einer Flasche Alkohol hinunterspülen würde. Ally hat auch versucht, im Internet eine Antwort auf diese Frage zu finden, aber sie war nicht wirklich darauf gekommen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur die falschen Suchbegriffe verwendet, aber es war ihr egal. Mit der dritten Packung Tabletten wurde ihr klar, dass sie es auf einen Versuch angekommen lassen würde. Da Ally nicht wusste, wie viele Tabletten sie brauchen würde, hatte sie nun schon fünf Päckchen bei sich. Die Flasche Wodka war erst vor wenigen Tagen dazu gekommen. Bisher hatte sie sich nicht getraut, tatsächlich ein paar der Tabletten zu nehmen.

      Die drückende Einsamkeit, der fehlende Sinn in ihrem Leben und heute die wohl dutzendste Ab­sage hatten den Ausschlag gegeben, ihre Pläne umzusetzen. Ally nahm die beiden Dinge aus dem Schrank und schloss die Tür mit einem leichten Tritt. Sie ließ das Säckchen auf den Couchtisch am anderen Ende des Raumes unter dem großen Fenster fallen. Dabei purzelten ein paar Päckchen heraus. Die Flasche stellte sie daneben. Sonst lag nur die Fernbedienung des Fernseher auf dem einfachen weißen Tischchen. Bevor Ally sich auf das schwarze Sofa hinter dem Tisch fallen ließ, holte sie noch ein weißes Blatt Papier und einen Stift aus der Kommode gegenüber, auf der auch der Fernseher stand. Mit fahrigen Bewegungen setzte sie den Stift auf das Papier. Sie hatte sich in den letzten Wochen immer wieder überlegt, was sie denn in ihren Abschiedsbrief schreiben wollte. Letztendlich hatte sie sich für ein paar kurze Abschiedsworte entschieden. Mit zitternden Händen und Tränen in den Augen schrieb Ally ihre letzten Worte.

       Es tut mir leid, aber es gibt in dieser Welt keinen Platz für mich. Ich werde euch sehr vermissen. Hab euch lieb!

      Dieser Brief richtete sich an ihre Eltern, ihre Schwester und ihre beste Freundin. Ally wollte sich gar nicht vorstellen, wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie davon erfahren würden. Sie wusste auch nicht, wie lange es dauern würde, bis man merken würde, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber in diesem Moment war ihr alles egal. Sie war einsam und allein. Es gab vielleicht ein paar Leute, welche sie vermissen würde, aber es gab niemanden, der sie wirklich brauchte.

      Ally seufzte schwer und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann fing sie an, die Tabletten aus den Päckchen zu drücken.


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