Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt Aram
das Antworttelegramm von Mr. Shmid aus Batum, das reichlich lange gebraucht hat, und in dem geschrieben steht, dass Mr. Shmid unmöglich von Batum nach Tiflis kommen, dass er überhaupt nichts für die Deutschen tun kann.
Wir machen lange Gesichter. Mit dem amerikanischen Schutz ist es also auch nichts. Nun heißt es: Hilf dir selbst ... Wenn es dafür nur nicht zu spät ist ... Hätten wir schon am Tage der Kriegserklärung gewusst, wie die Dinge liegen, hätte wohl doch noch mancher entwischen können bei der allgemeinen Unordnung. Aber wir Deutschen sind ja gewöhnt, auf den Rat unserer Behörden zu hören, in diesem Falle die Konsulate. Sie rieten uns, nichts zu unternehmen, sondern zunächst einmal zu warten ... Also warteten wir ... Bis der Krieg uns dann von dem Glauben an die Konsulate kurierte...
Der österreichische Konsul rüstet sich zur Abreise über Petersburg-Finnland. Ich setze Himmel und Hölle in Bewegung, um mit ihm reisen zu können. Man verspricht mir die Pässe bis zum Abend. Wir packen wieder einmal um, denn für die weite Reise über Finnland nimmt man nur das Allernotwendigste mit ... Der Abend kommt. Die Pässe nicht. Wir essen mit dem Konsul zu Abend. Gegen neun Uhr wird er von einem Offizier zur Fahrt nach der Bahn abgeholt ... Gegen halb elf erscheint er wieder im Hotel. Auf ein so baldiges Wiedersehen hatten wir nicht gerechnet. Er saß schon im Zug, und der Zug sollte abgehen, da wurde ihm bedeutet, der Weg über Finnland sei gesperrt. Er könne nur noch über Wladiwostok – Peking – San Franzisko – New-York reisen. Eine etwas umständliche und kostspielige Reise. Wer hat das nötige Kleingeld dafür in der Tasche? ... Also musste er wieder zurück in die Stadt, um sich das nötige Geld für diese Gewalttour zusammenzuborgen. Seine eigenen Gelder wurden ihm ja nicht mehr ausbezahlt...
Am nächsten Abend fuhr er dann ab und kam jedenfalls nicht mehr ins Hotel zurück. Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht.
Das Schicksal der Deutschen aber war damit besiegelt. Wir waren völlig schutzlos der Willkür der russischen Behörden preisgegeben.
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In der russischen Mausefalle
In der russischen Mausefalle
Am 5. August gegen Mittag kommt der Hotelportier in das Restaurant, wo wir Deutschen gerade wieder einmal beratend zusammensaßen, um die beiden Söhne des Hauses, mich und den bayrischen Ingenieur in das Büro zu rufen, wo der stellvertretende Reviervorsteher unserer harre, um ein Protokoll aufzunehmen.
Vier Mann hoch ziehen wir in das Büro. Ein jovialer, kugelrunder Herr, dieser stellvertretende Pristav. Essen und Trinken ist ihm sicher eine angenehmere Beschäftigung als Protokolle aufnehmen.
Ich komme zuletzt an die Reihe und habe Zeit, zu überlegen, was ich sagen soll. Meine Lage ist ein wenig heikel. Kurz vor Kriegsausbruch ist von mir in einem Berliner Verlag ein Buch unter dem Titel: „Der Zar und seine Juden“ erschienen, das mit der russischen Regierung nicht gerade wohlwollend umgeht. Aus meinem Pass ging ferner deutlich hervor, dass ich direkt aus Konstantinopel kam, dort mehrere Monate gelebt hatte und jetzt wieder nach der Türkei zurück wollte. Ich hätte den Russen also schon deshalb verdächtig erscheinen können.
Ich gab zu Protokoll, was freilich nur ein Teil der Wahrheit war, ich beschäftige mich mit archäologischen Studien, speziell mit chetitischen, und reise zu diesem Zweck nach Wan und Umgegend.
Der kugelrunde Pristavstellvertreter konnte sich dabei zwar offenbar nichts Rechtes vorstellen, gab sich aber vorläufig damit zufrieden.
Bis auf den jüngeren Sohn des Hauses konnten wir zu unserem Frühstück zurückkehren. Den jüngeren Sohn nahm der Polizeibeamte mit. Erst am nächsten Tag brachte seine Frau, eine im Kaukasus geborene deutsche Kolonistin, heraus, dass ihr Mann auf der Hauptwache saß und dort festgehalten wurde.
Tags darauf Nachricht von dem Eingesperrten, dass er zunächst auf der Hauptwache bleiben müsse, wo auch der deutsche Konsul aus Erzerum in der Türkei festgehalten werde. Dr. Anders, der deutsche Konsul in Erzerum, kam aus Wan, wohin ich ursprünglich hatte reisen wollen. Er wählte ebenfalls den bequemeren Weg über Russland nach Erzerum, ohne eine Ahnung vom Ausbruch des Krieges zu haben, wurde auf russischem Gebiet festgenommen und war also nun in der Hauptwache in Tiflis eingesperrt...
Die englische Kriegserklärung an Deutschland wird in Tiflis bekannt. Auf dem Rathaus tanzen sie Freudentänze. Tiflis steht Kopf. Nun kann es nicht fehlen! Deutschland ist schon so gut wie vernichtet.
Einige wenige Russen benehmen sich jetzt noch herablassender gegen die armen Njemezki, die Deutschen. Den meisten aber stärkt Englands Kriegserklärung so den Mut in der Brust, dass sie anfangen unverschämt zu werden gegen alles, was deutsch ist.
Nur die beiden Engländer in unserem Hotel freuen sich nicht der englischen Kriegserklärung. Im Gegenteil. Sie sind wie vom Donner gerührt, als sie sich darüber Gewissheit verschafft haben. Dann schimpfen sie auf Lord Grey, wie ich englisch noch nie habe schimpfen hören. Durch sein aktives Eingreifen in den Krieg verdarb er England nach ihrer Meinung das schönste und größte Geschäft, das sich der britischen Insel seit ihrem Bestehen bot. Nun hatte England Farbe bekannt, statt wieder im Trüben zu fischen. Der größte Fehler, den England je begangen hat. Sie reisten ab, wütend und verstört. Recht hatten sie! ...
Das junge holländische Ehepaar, das neutrale Ehepaar, fühlt sich unbehaglich, denn ganz mag man es doch nicht mit den Deutschen verderben, aber die Russen beginnen, es den jungen Leuten übelzunehmen, wenn sie mit uns sprechen. Sie tun das klügste, was ein Neutraler tun kann, sie reisen ab und machen ihre Bergtouren. Derweil die Welt in Flammen steht, besteigen sie den Kasbek.
Unser österreichisch-polnisches Ehepärchen hält sich fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer versteckt. Erst am Abend erscheinen die beiden und lustwandeln verstohlen, zärtlich aneinander geschmiegt, durch den kleinen Hotelgarten. Tagsüber fürchten sie sich und sehen von Tag zu Tag elender aus.
Großfürst Nikolai Nikolajewitsch
Erst als des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch (Nikolai Nikolajewitsch Romanow, auch Nikolai Nikolajewitsch der Jüngere genannt, ( russisch Николай Николаевич Романов, Николай Николаевич Младший; * 6. November jul. / 18. November 1856 greg. in Sankt Petersburg; † 6. Januar 1929 in Antibes) war ein russischer General und Großfürst aus der Zarenfamilie Romanow.) Aufruf an die Polen bekannt wird, atmen sie auf und fassen wieder Mut. Der Mann hat mir erklärt, er sei entschlossen, russischer Untertan zu werden. Wäre er nicht so schwächlich, hätte ich ihn geohrfeigt. So kehre ich ihm nur stumm den Rücken...
Acht Tage nach der ersten Protokollierung werden wir, der ältere Sohn des Hauses, der bayrische Hütteningenieur und ich, wieder aus dem Restaurant gerufen. Im Hoteleingang stehen sechs russische Infanteristen und ein Polizeioffizier mit zwei Polizisten. Als der Polizeioffizier uns sieht, kommandiert er barsch: „Hut auf! Mitkommen!“ Wir wollen unsere Frauen vorher verständigen. Man lässt es nicht zu. Also Hut auf und mit. Wir drei werden von den neun in die Mitte genommen und abgeführt. Wie Schwerverbrecher. Zu Fuß geht es in solchem Aufzug durch die Straßen zum zuständigen Polizeirevier. Die Sonne brennt beträchtlich.
Auf dem Revier treffen wir noch ein halbes Dutzend Deutsche, die genauso wie wir ohne jede Erklärung hierher transportiert worden sind. Auch die Polizei klärt uns nicht darüber auf. Wir stehen auf dem Gang herum und warten.
Es war noch nicht zehn Uhr, als wir eingeliefert wurden.
Um halb zwei werden wir, jetzt ein Dutzend Deutsche, vom Revier unter starker Bedeckung zum Polizeipräsidium eskortiert. Zum Gaudium der Russen führt der Weg durch die ganze Stadt. Nicht gerade ein angenehmes Spießrutenlaufen. Wir kommen an der Hauptwache vorbei, und der Zufall will es, dass gerade der jüngere Richter aus seinem vergitterten Fensterchen sieht, als sein älterer Bruder mit uns vorbeigetrieben wird.
Auf dem Polizeipräsidium heißt es zunächst wieder einmal: warten. Nach und nach kommen immer mehr Deutsche hinzu aus anderen Polizeirevieren.